Alex Lépic
Lacroix und die Toten vom Pont Neuf
Roman
Kampa
Pour Sylvia, qui a aimé Paris
Der Musiker aus der Metro
1
»Maigret, Telefon für Sie.«
Er ärgerte sich, dass die raue Stimme ihn aus seinen Gedanken riss. Eben erst war er wirklich angekommen in der vertrauten Umgebung zwischen den roten Backsteinwänden, hatte zufrieden die genaue Anordnung von Stiften, Notizbuch und Akten auf seinem Schreibtisch betrachtet und die leicht muffige Luft des fensterlosen Büros eingeatmet, in der alter Pfeifenduft festhing. Irgendwann würde er dem Korsen den Kopf abreißen.
Commissaire Lacroix erhob sich schwerfällig aus dem Sessel und mühte sich in das Großraumbüro seiner Kollegen. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, nahm er Paganelli den Hörer aus der Hand.
» Oui, Lacroix?«
» Bonjour , Commissaire. Mercier hier, Quai des Orfèvres.«
»Commissaire général?«
»Willkommen zurück, Lacroix. Ich würde Sie gern nach Ihrem Urlaub fragen, aber dafür ist keine Zeit. Die Kollegen im ersten Arrondissement sind überlastet. Wir brauchen Sie!«
»Was ist passiert, Arnaud?«
»Ein toter Clochard. Und um das Klischee vollständig zu bedienen: Er liegt unter dem Pont Neuf. Zwei Verkehrspolizisten sichern den Tatort.«
»Was machen denn die Kollegen aus dem Ersten?«
»Spezialsicherung mit den Kollegen aus dem Achten. Der Staatsbesuch aus Spanien und Italien. Die sind alle am Élysée bei der ominösen Mittelmeerkonferenz. Sie müssen übernehmen!«
Lacroix sah auf die große Wanduhr, die den schmucklosen Raum endgültig wie eine Bahnhofshalle aussehen ließ. Es würde nichts werden mit einem ausgiebigen Frühstück nach den Ferien.
»Wir machen uns auf den Weg.«
»Merci, mon cher.« Der Commissaire général hatte aufgelegt, bevor Lacroix etwas erwidern konnte.
Im Büro herrschte die Ruhe des frühen Morgens. Diese behäbige Routine, die ein solcher Anruf von jetzt auf gleich durchbrechen konnte.
»Paganelli, wissen Sie, wo Capitaine Rio ist?«
Von dem Korsen waren nur die dunklen Haare zu sehen, sein Gesicht steckte hinter Le Parisien.
» Café holen«, murmelte er.
»Rufen Sie sie bitte an. Wir fahren in fünf Minuten los.«
»Wird gemacht«, murmelte er und dann noch etwas, das Lacroix zum Glück nicht verstand.
Er ging in sein Büro, nahm sein Notizbuch und seine Pfeifentasche, griff den grauen Mantel vom Haken und hielt kurz inne. Sollte er? Sein Zögern ärgerte ihn. Selbstverständlich sollte er. Er nahm den braunen Hut, setzte ihn auf und warf sich den Mantel über. Es war Herbst. Man brauchte Hut und Mantel. Sollten sie doch reden.
Ohne ein Wort ging er an Paganelli vorbei ins Treppenhaus. Der Korse schnallte sich sein Holster um und folgte ihm. Auf dem Treppenabsatz kam ihnen Rio entgegen und balancierte lächelnd zwei Kaffeebecher.
Was war nur aus der guten alten Tasse café crème geworden, dachte Lacroix. Sitzend und in aller Ruhe im Café oder am Schreibtisch genossen. Er würde das nie verstehen.
» Bonjour , Commissaire. Ich freue mich, dass Sie wieder da sind. Es ist kalt geworden, nicht?«
»Der Herbst …«, antwortete Lacroix gedankenverloren. »Madame, Sie können gleich mitkommen.«
Jade Rio machte auf der Stelle kehrt und folgte ihrem Commissaire. Sie stammte ursprünglich aus dem Überseedépartement Mayotte, arbeitete nun aber schon seit zwölf Jahren an Lacroix’ Seite, erst als Kriminalassistentin, nun als Capitaine. Er hatte sie unmittelbar nach ihrem Abschluss an der Polizeiakademie eingestellt. Sie kannte seine Arbeitsweise wie keine Zweite, und sie konnten sich immer aufeinander verlassen.
Obwohl Lacroix eine Woche in den Ferien gewesen war, hing immer noch das Hors-service -Schild am Fahrstuhl. Drei Etagen. Doch der Abstieg war nicht das eigentliche Problem.
»Was ist denn so dringend?«, fragte Rio den Korsen.
»Ein Mord am Pont Neuf, wir müssen den faulen Säcken von rive droite unter die Arme greifen.«
Im zweiten Stock stand eine Schulklasse vor dem Musée de la préfecture de police, das ausgerechnet in Lacroix’ Kommissariat beheimatet war. Die Knirpse waren vielleicht acht oder neun Jahre alt. Die beiden Lehrerinnen blickten auf, als sie die Polizisten kommen sahen, und ermahnten die Kinder, Platz zu machen und leise zu sein. Eine der beiden sah einen Moment zu lange hin, betrachtete Lacroix, seinen Hut, seinen Mantel und die Pfeife. Paganelli nutzte seine Chance.
»Schauen Sie ruhig hin, das ist er«, rief er und wies mit dem Finger auf Lacroix. »Direkt aus dem Museum: unser Commissaire Maigret. Wir müssen ihn uns kurz für eine wichtige Ermittlung ausleihen. Aber keine Sorge, wir bringen das wichtigste Exponat nachher wieder zurück.« Er lachte sein heiseres Lachen.
»Hör auf, Adolphu!«, flüsterte Rio. »Du weißt doch, dass er das hasst.«
Lacroix ging weiter die Treppen herunter, sah sich nicht um und öffnete schon die Pfeifentasche. Er würde den Brigadier im Auto ausräuchern.
»Wir holen den Wagen und sammeln Sie vorne ein. In Ordnung, Commissaire?«, brachte Paganelli mühsam hervor. Er lachte immer noch.
Lacroix nickte. Er spürte den kalten Wind und zog seinen Mantel enger um sich, als die Tür aufschwang. Draußen standen vier Beamte, die den Eingang der Préfecture bewachten, Maschinengewehre in den Händen. Er nickte ihnen zu, einer der jungen Männer salutierte.
Lacroix hörte den Verkehr auf dem Boulevard Saint-Germain rauschen, doch hier auf der engen Rue de la Montagne-Sainte-Geneviève war es ruhig, dörflich beinahe, der kleine Bäcker gegenüber, daneben der Eisenwarenhändler. Die Straße war eine der ältesten von Paris, sie führte steil bergan quer durchs fünfte Arrondissement. Auf dem Hügel, der nach der Pariser Schutzheiligen Genoveva benannt war, ruhten im Panthéon einige der berühmtesten Persönlichkeiten des Landes.
Das Kommissariat war schmucklos, ein Neubau aus den Sechzigern. Außer einem kleinen Schild wies nichts darauf hin, dass im zweiten Stock ein Museum lag, das – zwar etwas verstaubt, dafür aber auch wunderbar verschroben – die Geschichte der Pariser Polizei erzählte. Ausgestellt wurden alte Waffen, Uniformen aus den vergangenen Jahrhunderten und Bilder und Geschichten aus dem alten, kriminellen Paris. Der Eintritt war frei, und so waren es meistens Schulklassen, die die alten Revolver bewunderten und aufgeregt die Beschreibungen von abscheulichen Morden lasen. Touristen kamen nur wenige.
Lacroix ging ein paar Schritte, wie er es jeden Morgen tat. Schon von Weitem erkannte ihn Eric Hoche, der vor seinem Kiosk die Zeitungen sortierte.
»Monsieur le Commissaire, Sie sind zurück!« Er hob die Hand zum Gruß, und Lacroix trat näher.
»Monsieur Hoche, schön, Sie zu sehen. Wie laufen die Geschäfte?«
Der ältere Mann wiegte den Kopf hin und her. Eine Marotte.
»Ach, wenn Sie im Urlaub sind, ist mir immer langweilig. Ihre Kollegen lesen ja nicht. Wenn Sie weg sind, ist hier tote Hose. Ach, verzeihen Sie – Kundschaft.«
Er ließ Lacroix stehen und ging in den grünen Kiosk, um eine Frau zu bedienen, die stehen geblieben war, um die aktuelle Le Monde zu kaufen. Lacroix sah die Berge von verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, und sofort besserte sich seine Laune. In der Auvergne war er froh gewesen, wenn er Le Figaro hatte auftreiben können, dazu die lokale Tageszeitung La Montagne . Hier konnte er nach Herzenslust lesen: Le Monde diplomatique, Le Cânard enchainé, L’Obs, La Croix .
»Monsieur Hoche, ich komme später noch einmal vorbei«, sagte er, als er seine Kollegen in einem Zivilfahrzeug um die Ecke biegen sah.
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