Alfred wedelte sie weg wie eine lästige Stubenfliege. Dann setzte er sich breitbeinig auf einen Stuhl, verschränkte die Hände über dem Bauch und sagte: »Da wird unser Führer schon noch dafür sorgen, dass unschuldige junge Mädchen in Zukunft nicht einfach so zu Tode geschändet werden können.«
»Sie haben da gründlich was missverstanden, Herr Habegger«, konterte Benedikt. »Niemand ist geschändet worden. Außerdem stellen wir hier die Fragen und Sie antworten. Sonst nichts, haben Sie verstanden?«
Alfred nahm nochmals einen großen Schluck Bier aus seinem Glas und wischte sich dann genüsslich den Schaum aus dem sorgfältig gestutzten Oberlippenbärtchen.
»Sie konnten die Flora nicht leiden. Können Sie uns bitte genau erläutern, wieso nicht?«, wollte Benedikt wissen, den das großspurige Gehabe Alfreds gewaltig störte.
»In unserer ordentlichen deutschen Familie hat die nichts verloren gehabt«, antwortete Alfred. »Des war a Theaterschlampn aus der Stadt mit hirnverbrannten Ideen und außerdem noch a Kommunistenflitscherl. Sogar in ihrer braven Klosterschürzn hat s’ ihren Busen und den Hintern immer so nausgstreckt. Des ghört sich ned für a deutsche Frau. Dem Theo hat s’ vollkommen den Kopf verdreht mit ihre gschpinnertn Ideen. Und poussiert hat s’ ihn auch. A paarmal hab ich ihr gehörig Bescheid gsagt, aber die is ja glei frech worn! Der Theo war ihr ja regelrecht verfallen. Theaterstückln wollten s’ hier aufführen – i kann mir schon vorstellen, welche –, und verbotene Bücher haben s’ gelesen, Marx und den Brecht und die alle. Und des hab ich scho mitgkriagt … mitm Bergleitner und dem Xaver ham sie sich a no troffen. A Schand war des!« Er trank noch einen Schluck.
»I hab halt ghofft, dass s’ bald wieder verschwindet. Da war ja auch a paarmal ihr Vater da und hat mit ihr gredt, und so a komischer Theaterzausel is a amoi kemma. Solche Gestalten wie den, die wird’s a bald nicht mehr geben. Ich fress an Besen, wenn des ned a Jud war! Ja, ich hob ihr a schon ein paarmal schwer d’Meinung gsogt, der Flora, und ihr auch deutlich gmacht, dass sie hier ned willkommen is.«
»Ist es da vielleicht zu Drohungen oder gar Handgreiflichkeiten gekommen, Herr Habegger?«, insistierte Benedikt.
»Na …« Alfred wand sich ein wenig und wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. »A richtige Watschn hätt i ihr schon gern mal gebn. Ich war ein paarmal schon kurz davor. I hab halt immer noch ghofft, dass s’ bald wieder zruck nach München geht.«
»Wo, Herr Habegger, haben Sie sich aufgehalten in der Nacht, als Flora zu Tode kam?«, fragte Benedikt nach. »Sie hatten ja frei in diesen Stunden.«
»Da war ich bei meiner Verlobten Herta im Grieserhof. Sie ist BDM-Scharführerin im Gau Rosenheim.«
»Die ganze Nacht?«, fragte Fanderl etwas süffisant.
Alfred nickte, nun standen noch ein paar Schweißtropfen mehr auf seiner Stirn.
»Ja, wir gedenken nächstes Jahr zu heiraten.«
»Wir werden Ihre Verlobte natürlich befragen, ob es zutrifft, dass Sie die ganze Zeit bei ihr waren«, meinte Benedikt.
Alfred nickte.
Gerade als sich alle erhoben und Alfred nochmals zu einem Hitlergruß ansetzen wollte, kam Lisi zur Tür herein. Sie wirkte verschwitzt, so als wäre sie eine weite Strecke sehr schnell gelaufen.
»I hab’s ihr gebn!«, rief sie Alfred etwas atemlos zu.
»Is scho guat, schleich di jetzt«, antwortete der kurz angebunden und scheuchte seine Schwester zur Tür hinaus.
Als Fanderl und Lindgruber den Seewirt verließen, war es schon später Nachmittag.
»Wir haben ganzen Tag noch nichts gegessen«, bemerkte Benedikt. »Mein Magen knurrt.«
»Ich geh jetzt heim und schau, was die Therese gekocht hat. Die Franzi wird doch sicher auch was vorbereitet haben«, erwiderte Fanderl.
»Wohl eher die Berta«, meinte Benedikt. »So wie ich meine Franzi kenn, bastelt die an dem Hut, den sie heut kennengelernt hat. Und morgen früh gehen wir gleich zu der Verlobten.«
»Ihr müsst gleich nach der Andacht naus in den Klostergarten und nachschauen, was des Unwetter alles angrichtet hat. Da gibt’s sicher viel zum tun«, wies Schwester Kreszentia die beiden Novizinnen an.
Der Klostergarten, von vielen Besuchern der Insel bewundert, war neben der Küche Kreszentias Leidenschaft. Jetzt, zu Beginn des Frühherbstes, war der Garten eine Pracht gewesen, bis der Schneefall einsetzte. Gladiolen, bunte Astern und Dahlien, Kirchweihblümerl, Stockrosen, Sonnenblumen und noch so einiges mehr hatten das Auge des Betrachters erfreut. Nach dem Kälteeinbruch sahen viele Pflanzen zerzaust und geknickt aus, doch Kreszentia hoffte, dass sich das meiste wieder erholen würde, genau wie im angrenzenden Gemüsegarten.
Hilda freute sich, Sophie stöhnte auf. Während Hilda sich gleich die Gartenschürze umband und Gartengerät aus dem Schuppen holte, setzte sich Sophie erst mal auf die Gartenbank.
»Ich lese nur noch das Kapitel fertig, dann helfe ich dir«, rief sie der Mitschwester zu.
Hilda verdrehte die Augen.
Sophie versenkte sich wieder in ihr Buch, doch die Buchstaben verschwammen ihr vor den Augen, und ihre Gedanken schweiften zu Flora. Wie oft war sie hier auf der Bank neben Sophie gesessen, hatte nachgefragt, was sie denn gerade lese, hatte manchmal ein wenig über »ihre Heiligen« gespöttelt und dann Geschichten erzählt vom Theater, von den Ballettstunden, die sie genommen hatte, und noch so einiges mehr an Ratsch und Tratsch aus der großen Stadt München, die Sophie noch nie besucht hatte. Manchmal hatte Sophie sich dann vorgestellt, wie sie mit der Flora wie zwei ganz normale junge Mädchen Arm in Arm durch die Stadt bummeln, Kleider anprobieren, Kaffee trinken und dabei eine Menge Spaß haben würde.
Zu Hause in Coburg hatte es Ella gegeben, die, in Sophies Alter, eine Mischung aus Dienstmädchen, Zofe und Vertrauter gewesen war. Sophie erinnerte sich gern daran, wie Ella ihr jeden Morgen das Haar mit hundert Strichen gebürstet, sie bei der Auswahl der Tageskleidung beraten und ihr abends das heiße Bad mit Rosmarinessenz oder Baldrian eingelassen hatte. Manchmal waren sie auch zusammen ins Städtchen zum Hutmacher oder zur Schneiderin gegangen. Ella hatte so einiges über die Einwohnerschaft Coburgs gewusst, was der höheren Tochter Sophie nie zu Ohren gekommen wäre, und vor allem hatten sie viel zusammen gelacht. Nur eines hatte Sophie nicht gemocht: Wenn Ella über männliche Bekanntschaften und den einen oder anderen Verehrer, den sie hatte, plauderte. Ein eigenartiges Gefühl, das sie nie recht deuten konnte, war dann in ihr aufgestiegen.
Natürlich war auch Sophie zu den Winterbällen und den zahlreichen sommerlichen Unternehmungen ihres Städtchens eingeladen gewesen, doch sie hatte sich in dieser Gesellschaft immer ein wenig fremd gefühlt. Wenn wirklich einmal ein Verehrer auftauchte, wusste sie überhaupt nicht damit umzugehen, und spätestens nach ein, zwei Versuchen hatten sich die Herren dann wieder zurückgezogen. Natürlich drängten ihre Mutter und ihre älteren Schwestern sie dazu, sich endlich einmal auf dem Heiratsmarkt zu zeigen, und ließen auch nichts unversucht, um sie zu verkuppeln, doch nichts hatte so richtig gefruchtet.
»Du bist einfach ein kalter Brocken«, hatte ihre älteste Schwester einmal sehr direkt gesagt.
Als dann die von ihrer Familie ziemlich krampfhaft initiierte Verlobung mit Eberhard Baron von Münnerstadt so peinlich fehlgeschlagen war und der große Skandal gerade noch abgewendet werden konnte, hatte sich Sophie zuerst zu ihrer Tante nach Bad Kissingen zurückgezogen und war schließlich bei den Benediktinerinnen auf Frauenchiemsee eingetreten. Doch nie hatte sie das Gefühl gehabt, eine eigene Entscheidung getroffen zu haben, es wurde über sie bestimmt, und sie nickte dazu.
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