Ich saß am westlichen Ende des Platzes, so weit von den Feuern entfernt, dass ich nicht gesehen werden konnte. Es war eine schöne, klare Nacht. Die Sterne leuchteten sanft, der Mond war noch nicht aufgegangen. Im Hintergrund stand als dunkler Schatten der Berg Zeuth. Davor blinkten kleine Lichter, die von den Gebäuden an seinem Hang stammten. Von mir aus gesehen befanden sich rechts das Bergviertel mit den Villen der Reichen und links die Burg, die höher stand als alles andere. Dazwischen die Residenz des Fürsten Borran, von der kein Lichtschein herüberdrang, und die Akademie des Zeuth. Sie leuchtete heute Nacht in einem sanften, dunklen Blau. Die Magier waren zufrieden mit sich und der Welt. Auch der Tempel des Einen Gottes, unterhalb der Burg in der Stadt, war noch zu erkennen.
Wenn viele Händler auf dem Händlerwasen ihre Güter austauschten, konnten dort bis zu hundert Wagen, Karren und Fuhrwerke stehen. Die Ställe und Weideflächen südlich des Platzes waren dann voll. Die Bedürftigen kamen aus Dongarth und dem Armenviertel und boten für ein paar Kreuzer ihre Dienste als Helfer an. Die Händler waren bereit, sie zu bezahlen, um ihren eigenen Leuten die Zeit in der Hauptstadt angenehm zu machen. Denn der rege Austausch an den Lagerfeuern zwischen Menschen aus allen Teilen der Ringlande war eine wichtige Informationsquelle. Jeder vernünftige Händler fragte am nächsten Morgen beiläufig seine Fuhrleute nach dem, was sie gehört hatten. Denn die Händler selbst beteiligten sich nicht an diesem feucht-fröhlichen Treiben. Sie saßen in den Tavernen oder vornehmen Gaststätten - je nach Geldbeutel und Bedeutung des Einzelnen - und redeten mit ihresgleichen.
Auch ich war zum Händlerwasen gekommen, um Neues zu hören. Martie und Gendra würden sich melden, falls sie etwas über Serenhem Bendal in Erfahrung brachten. Wenn nicht, dann wartete ich eben umsonst. Ich vertrieb mir die Zeit damit, das Treiben an den Lagerfeuern zu beobachten.
Es gab einige Leute, die von Gruppe zu Gruppe schlenderten. Sie setzten sich, redeten eine Weile, gingen dann aber weiter. Das mochten Spitzel sein, ob vom königlichen Rat, vom Fürsten Borran, von Cham Corram oder auch nur von einem der Händler, der möglichst viel in Erfahrung bringen wollte. Auch eigneten sich solche Nächte wunderbar dazu, Gerüchte in die Welt zu setzen. Was hier getuschelt wurde, verbreitete sich innerhalb von Wochen bis in den letzten Winkel der Ringlande.
Ich gähnte und fragte mich, ob Bendal in meiner Nähe war, oder ob der Reisende aus dem Osten an einem der Feuer saß. Falls er wirklich von draußen kam, aus Ostraia zum Beispiel, würde er viele für ihn merkwürdige Dinge hören. Wusste man in anderen Gegenden der Welt Bescheid über den besonderen Schutz des Berges Zeuth und des Ringgebirges? Sie verhinderten, dass unser Land erobert werden konnte. Je mehr Bewaffnete in einer Gruppe beisammen waren, desto schwächer wurden sie im Kampf. Eine Räuberbande von einem Dutzend spürte davon kaum etwas. Aber eine gut gerüstete Einheit aus einhundert Schwertkämpfer würde eine Schlacht gegen zwanzig oder dreißig schlechter ausgerüstete Kämpfer verlieren. Eine Armee mit Tausenden von fremden Soldaten konnte von einer Hundertschaft der unsrigen vernichtend geschlagen werden.
Dieser Schutz machte die Ringlande unangreifbar. Auch weil jemand, der hier geboren wurde, im Kampf gegen jemanden von außerhalb immer einen Vorteil hatte. Der Berg bevorzugte seine Menschenkinder, sogar im Zweikampf.
Diese Gewissheit, so hatte Fürst Borran einmal nachdenklich gesagt, machte uns Ringländer träge und wenig interessiert an der Welt außerhalb. Niemand könne uns wirklich bedrohen, so dachten wir immer. Doch dann kamen die Kurrether, die trotz ihrer überlegenen Waffen nicht versuchten, gegen uns zu kämpften. Sie boten ihre Dienste an als wertvolle Ratgeber, besetzten Positionen in den Verwaltungen und waren binnen weniger Jahre überall, wo es etwas zu entscheiden gab. Da findet ein Kampf ohne Waffen statt, hatten Borran gesagt, und kaum einer bemerkt es.
Der Schutz des Berges war jedoch auf größere Auseinandersetzungen begrenzt. Leider hinderte er niemanden daran, seinem Mitmenschen den Schädel einzuschlagen oder in kleinen Gruppen Raubzüge auszuführen. Man sagte, dass bis zu zehn Kämpfer keine Nachteile spürten. Deshalb gab es Räuberbanden entlang den Handelswegen und jede Menge Konflikte zwischen den Fürstenhäusern. Die konnten eben nur nicht mit Armeen auf einander losgehen und große Schlachten schlagen. Solche Ereignisse soll es früher im Kaiserreich oft gegeben haben. Aber die Ringlande waren sicher davor.
Einst, vor vielen Generationen, herrschten mehr als sechzig Fürstenhäuser über das Land. Meine Vorfahren, die Fürsten von Reichenstein, waren die Herren eines kleinen Gebiets im Nordosten gewesen. In fast endlosen begrenzten Konflikten, die in ihrer Summe auch Abertausende von Toten gefordert haben mochten, reduzierte sich im Laufe von Jahrhunderten die Zahl der Fürstenhäuser auf sieben. Die unterstellten sich schließlich als Provinzen dem Königshaus. Um den König nicht zu mächtig werden zu lassen, unterstand ihm selbst keine große Region, sondern nur die Hauptstadt.
Dieses Gleichgewicht war nun seit dreihundert Jahren stabil. Zu stabil, wenn ich Fürst Borran richtig verstand.
Zwei dunkle Schatten näherten sich mir von Norden kommend. Ich hörte auf zu Grübeln und sah genauer hin. Die Umrisse ließen keinen Zweifel: Es war Gendras massige Gestalt mit den geschmeidigen Bewegungen, und neben ihr Martie, dem man das militärische Training bei jedem Schritt anmerkte. Sie hatten mich bisher nicht bemerkt, ich saß zu gut geschützt vor fremden Blicken im Dunkel unter einem alten Baum. Erst, als sie nur noch zehn Schritte entfernt waren, stutzten sie. Die kleine Bewegung, mit der sich jeder der Beiden versicherte, dass die Waffe griffbereit war, verriet die Kampferfahrung. Ich stand auf und drehte mich ein wenig, damit der Lichtschein der Lagerfeuer mein Gesicht erhellte.
„Du hast nicht genau gesagt, wo du auf uns wartest“, rechtfertigte Gendra sich, als ich sie mit der Bemerkung begrüßte, sie würden sich offenbar vor mir fürchten. „Und wenn du wüsstest, was wir wissen, hättest du dich nicht alleine hierher gesetzt.“
„Ist es so gefährlich, dass wir wo anders hingehen sollten, obwohl ihr jetzt hier seid?“, erkundigte ich mich leichthin.
„Mir wäre wohler.“
Dieses Eingeständnis überraschte mich. Ich fragte aber nicht nach dem Grund, sondern folgte den beiden bis zum Ufer des Donnan. Dort gab es ein paar Holzbalken, die zum Festbinden von Pferden dienten, wenn diese mit dem Kahn von der Küste hierher gebracht wurden. Derzeit waren sie unbenutzt. Wir setzten uns und hatten nun das Wasser im Rücken. Einen besseren Schutz gab es nicht. Jeden, der von vorne kam, würden wir gegen das Licht der Lagerfeuer erkennen. Der Pfad, der am Ufer entlang führte, war mit Kieseln belegt, über die sich von der Seite her niemand völlig geräuschlos nähern konnte.
„Was habt ihr herausgefunden?“, wollte ich wissen.
„Bevor wir eine Geschichte erzählen, die du vielleicht schon kennst, frage ich lieber“, begann Gendra. „Hast du gehört, was kurz vor Einbruch der Dunkelheit am Handelshafen vorgefallen ist?“
„Noch nicht. Ist es wichtig, das zu wissen?“
„Und ob. Martie und ich waren zunächst getrennt in der Stadt unterwegs, um ein paar Leute auszufragen, die wir kennen. Niemand, mit dem ich gesprochen habe, wusste etwas Konkretes, aber alle hatten davon gehört, dass jemand eine Gruppe Bewaffneter zusammenstellen will. Es war von guter Bezahlung die Rede, aber dafür wolle der Auftraggeber die Besten haben, die Dongarth zu bieten hat. Leute, die nicht nur kämpfen können, sondern auch bereit sind, es zu tun. Eine riskante Sache sei geplant, nicht ganz legal, aber nicht direkt ein Verbrechen, dessen ein Söldner sich schämen müsste.“
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