„Wo willst du denn hin?“, hakte Tia argwöhnisch nach. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es mit Sicherheit nichts Militärisches war. Wollte sie das?
„Dir was zeigen.“ Er stieß sie leicht mit der Schulter an und da schlich sich doch tatsächlich ungewollt ein Lächeln in ihre Züge. Entgegen ihrem Bauchgefühl stimmte sie zu und folgte ihm. Sie überquerten den Platz und gingen mitten durch eine Ansammlung von Zelten und Feuern. Ein Stück entfernt, konnte Tia große, dunkle Zelte ausmachen. Sie stachen mit den fast schwarzen Planen aus der Masse hervor.
„Was ist das?“, wollte sie wissen und deutete darauf.
„Dort leben die Kahn. Sie mögen es dunkler, deswegen haben sie schwarze Zelte.“
„Es muss elend heiß da drin sein“, merkte Tia an.
„Es geht. Sie sind oben offen, das hilft.“
„Kennst du die Magier gut?“
Ilkay hob den Blick, den er auf den Boden gerichtet hatte, wieder zu den Zelten. „Ploth ist der Einzige, der regelmäßig bei uns ist. Er ist ihr Meister Kahn, weil er am besten mit der Magie zurechtkommt. Die anderen leben sehr zurückgezogen. Es ist schwierig als Kahn zu existieren. Egal was man tut, es könnte das Letzte gewesen sein. Für sie oder uns.“
„Wie funktioniert ihre Magie eigentlich genau? Ich weiß nur, dass sie mit dem Geist zaubern.“
„So ist es sehr einfach ausgedrückt. Jeder der als Kahn geboren wurde, muss erwachen . Sobald das geschehen ist, ziehen sich die meisten komplett aus der Welt zurück. Wenn sie das Erwachen überhaupt überleben. Sobald das aber geschehen ist, sind ihre Gedanken ihre Waffe und gleichzeitig ihr Fluch. Ploth hat es mir mal erklärt. Man kann es sich als zwei Teile im Kopf vorstellen. Man muss sie mental trennen können und nur dann auf den Magischen zugreifen, wenn man ihn braucht. Ansonsten können alle Gedanken tödlich sein.“
„Ihre Gedanken? Aber wie denn?“
„Mhh, wie erkläre ich das.“ Er schwieg kurz und überlegte. „Wenn sie zaubern wollen, müssen sie sich auf etwas konzentrieren. Zum Beispiel einen Windstoß, der die Gegner wegweht. Dann müssen sie auf den magischen Teil ihres Geistes zugreifen und den Gedanken damit verbinden. Wenn sie das tun, wird der Gedanke sozusagen real. Wind kommt auf und pustet die Gegner um.“
Tia grinste bei der Vorstellung, wurde aber gleich wieder ernst, als ihr ein weiterer Gedanke kam. „Wenn sie also an etwas denken, zum Beispiel den Tod von jemandem, und dann unbewusst auf den magischen Teil zugreifen, könnte dieser jemand einfach tot umfallen?“
„Im Zweifelsfall, ja. Deswegen müssen sie lernen, den magischen Teil zu kontrollieren. Das ist gar nicht so einfach. Viele überleben das Erwachen deshalb nicht. Sie haben solche Angst davor jemandem oder sich selbst zu schaden, dass ihnen die schlimmsten Gedanken kommen, und schon ist es zu spät.“
„Das ist schrecklich“, musste Tia feststellen. „Ich wusste ja, dass es mehr Fluch als Segen ist, wenn man als Kahn geboren wird, aber dass es so schlimm ist?“
„Leider ist es so.“
„Sind die Kahn im Lager, dann nicht eine Gefahr?“, wollte sie weiter wissen.
„Nein. Sie sind allesamt gut ausgebildet. Der Orden besteht, um junge angehende Kahn auf ihre Zeit als Magier vorzubereiten. Sie lernen früh, sich zu konzentrieren und wissen, was beim Erwachen auf sie zu kommt. Die 14 Kahn hier sind mental so stark, dass sie keine Gefahr darstellen. Alle anderen bleiben unter sich. Sie haben wohl irgendwo in Tau einen Stammsitz.“
„Aber trotzdem bleiben sie auch hier unter sich.“
„Sicher ist sicher. Sie wollen es allerdings selbst so. Wir haben sie oft eingeladen, bei uns zu sein. Sie haben immer abgelehnt.“
„Ploth aber nicht.“
„Er nicht. Er ist unsere Verbindung zu ihnen.“
Tia erinnerte sich an den unsteten Ausdruck in den Augen des Mannes. Das zeigte wohl die enorme Konzentration, die es erforderte nicht aus Versehen doch zu zaubern.
„Sie sind trotzdem gefährlich“, hielt sie fest. „Was wenn sich einer entscheidet, dem Feind zu helfen? Sie könnten dieses Heer mit einem Gedanken auslöschen.“
„Es ist ein Risiko ihnen zu vertrauen. Aber wann ist Vertrauen kein Risiko? Außerdem kann ein Kahn keine ganze Streitmacht erledigen. Auch diese Magie kostet Kraft. Ein Kahn könnte vielleicht zehn Soldaten töten und würde dabei selbst sterben. Das ist es nicht wert.“
„Was tun sie dann für das Heer?“
„Im Moment? Nichts. Wenn es zur Schlacht kommt, werden sie Angriffe führen oder schützen. Je nachdem welches ihre Stärke ist. Im Gegenzug schützen wir sie, damit der Feind sie nicht bekommt. Nicht ganz uneigennützig für uns. Aber das wissen sie.“ Ilkay grinste.
Sie hatten den Rand des Lagers erreicht und ein hoher Holzzaun schnitt ihnen den Weg ab. Tia sah sich nach einem anderen Weg um, doch Ilkay ging weiter auf den Zaun zu. Er blieb davor stehen und drückte dagegen. Zwei Stämme schwangen nach außen und er warf ihr einen auffordernden Blick zu.
Sie schob sich durch den entstandenen Spalt und wartete draußen, dass er es ihr nachtat. Er kam und die Stämme schwangen zurück an ihren Platz. Es war nicht zu sehen, wo die Lücke gewesen war.
Der Hauptmann lächelte fröhlich. „Komm weiter.“
6
Er ging voraus und einen schmalen Trampelpfad entlang. Es hätte auch ein Wildwechsel sein können, doch Tia erkannte an Ilkays sicheren Schritten, dass er öfter hier entlang lief. Er führte sie durch einen kleinen Wald und einen Hügel hinauf. Weiter oben lichteten sich die Bäume. Dort reichte er ihr eine Hand, um ihr bei einem etwas steileren Stück zu helfen. Seine Finger umschlossen ihre und sofort spürte Tia wieder dieses Kribbeln im Bauch. Oben angekommen, drehte Ilkay sie in die Richtung, aus der sie gekommen waren und ihr stockte der Atem.
Der Ausblick war traumhaft. Die untergehende Sonne tauchte die Landschaft in ein warmes Orange-Rot. Das Lager unter ihnen lag still da und der Wald darum herum, bildete einen wunderschönen, dunklen Kontrast zu den hellen Zelten und freien Plätzen. Links vom Lager lag Griza, deren Gebäude länger werdende Schatten warfen und ebenso orange leuchteten wie der Himmel. Dies und ihre unmittelbare Umgebung gaben Tia ein Gefühl von Frieden.
„Und? Habe ich zu viel versprochen?“, fragte Ilkay und sie konnte ihn dabei lächeln hören.
„Nein. Es ist unbeschreiblich.“
„Komm, setz dich. Den Sonnenuntergang solltest du nicht verpassen.“
Sie ließen sich im Gras nieder und eine angenehme Stille stellte sich ein. Tia genoss die Ruhe. Sonst waren immer irgendwelche Leute um sie herum oder Pferde wieherten. Irgendwer machte immer Lärm. Doch hier war es einfach nur still. Ab und zu sang ein Vogel, doch das störte überhaupt nicht.
„Das Lager ist echt riesig“, brach sie schließlich das Schweigen. „Es muss ewig gedauert haben, es aufzubauen.“
„Fast drei Jahre. Anfangs gab es nur das da vorn.“ Ilkay deutete auf den Teil des Lagers, in dem sie angekommen waren. „Wir haben immer mehr Truppen rekrutiert, also brauchten wir immer mehr Platz. Wenn du genau hinschaust, kannst du erkennen, welche Teile die Neueren sind.“
Tia versuchte, die Unterschiede auszumachen, und sah, was er meinte. Von hier oben konnte man gut sehen, welche Truppen zusammengehörten. Jede hatte eine andere Art ihre Zelte zu stellen oder die Feuer anzulegen. Sie sah auch ihre Kavallerie. Der Boden war noch nicht richtig festgetreten und der Platz, wo ihre Zelte standen, war noch grün. Weiter zu den Kommandozelten hin wurde er immer dunkler.
„Wie viel Mann umfasst das Heer jetzt?“, wollte sie wissen und versuchte es selbst zu schätzen.
„Ungefähr 5000 Mann, wenn man wirklich alle mitzählt. Also auch die Bediensteten und Schmiede und so weiter.“
„Und wie viele Einheiten gibt es?“
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