„Mhm“, antwortete ich und setzte mich neben ihn. Was guckte er denn da? Irgendeinen Erdbebenfilm, belanglose action , wüstes Gekreische – und ausgerechnet New York, war das nach dem 11. September nicht ein bisschen geschmacklos? Ich guckte aber brav mit und stellte nebenbei fest, dass Werner eine große Pizza komplett verdrückt hatte. Wenigstens hatte er nicht hungern müssen, weil ich so pflichtvergessen war!
„Willst du nichts essen?“, fragte er in diesem Moment, als habe er meine Gedanken gelesen.
„Nein, mir ist nicht gut. Ich bin total müde, wärst du böse, wenn ich schon schlafen gehe?“
Werner schüttelte den Kopf, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen, und ich trollte mich erleichtert. Schlafen konnte ich zwar erst einmal nicht, aber wenigstens konnte ich mich schlafend stellen, als Werner gegen halb elf ins Bett kam. Ich musste mich umgehend testen lassen, beschloss ich. Oder Decker fragen! Nein, viel zu peinlich. Aber Blutprobe, warten, die Ungewissheit... Und wenn Decker log?
Ich hatte mich wirklich gründlich in die Scheiße geritten!
Immerhin gelang es mir am Freitag, Decker aus dem Weg zu gehen. Die HIV-Frage konnte ich ihm ja ohnehin nicht stellen, obwohl ich während der Arbeit tausend Situationen durchspielte, in denen ich ganz natürlich zu dieser Frage kommen konnte. Leider war keines dieser Szenarios auch nur annähernd realistisch. Also verwarf ich sie alle, konzentrierte mich fünf Minuten lang auf die Unterlagen vor mir und plante die nächste Szene durch. Oder doch lieber zum Arzt? Aber auf keinen Fall zu meinem Hausarzt! Ich konnte irgendeine Erkältung oder Entzündung vorschieben, um mir Werner erstmal vom Leib zu halten…
Erst betrog ich Werner, dann log ich auch noch schamlos! Und die Szene in der Tiefgarage bereute ich auch nur wegen der ganzen Komplikationen, ansonsten dachte ich gerne mit dämlichem Lächeln daran zurück – außer, wenn ich überlegte, dass Decker sehr gut finstere Absichten verfolgt haben konnte, wenn ich auch nicht wusste, welche genau. Jedenfalls kam ich mir ziemlich schlecht vor – und dabei war ich vor wenigen Wochen noch so brav und korrekt gewesen, die effiziente Finanzplanerin mit dem tadellosen Auftreten und der gesicherten, bürgerlichen Zukunft. Und jetzt? Ich belog und betrog meinen künftigen Mann, hatte mir vielleicht noch eine Krankheit eingefangen und wusste überhaupt nicht mehr, was ich wollte. Vielleicht sollte ich mich besser wieder auf die Arbeit konzentrieren, bevor ich noch so gravierende Fehler machte, dass es Decker einen Vorwand gab, mich auf die schwarze Liste zu setzen!
Ich holte mir alle Buchungsübersichten und aktuellen Stände der Firmenkonten auf den Bildschirm, las sie gründlich durch und druckte sie aus, um eine Handhabe zu besitzen, falls sich wieder rätselhafte Abweichungen zeigen sollten. Heute war allerdings nichts zu sehen.
Die alten Fehlbuchungen waren über Prombergers Rechner gelaufen. Hatte er seine Finger mit drin? Das konnte ich mir nicht vorstellen, der konnte ja nicht einmal schwindeln, wenn es die Höflichkeit erforderte! Ich fuhr hinunter und lief über den Hof in die Produktion, wo ich ihn in seinem Glaskabuff über der Werkshalle fand. Als ich ihm erzählte, was ich herausgefunden hatte, regte er sich fürchterlich auf, und es war gar nicht so einfach, ihm klarzumachen, dass ich ihn gar nicht verdächtigte. Mühsam erklärte ich ihm, dass jeder Rechner in unserem Netz über die IP-Adresse eine Signatur auf den Dokumenten hinterließ und die veränderten Konten eindeutig von hier ins Netz gespeist worden waren.
„Wer kann denn an diesen Rechner hier?“
„Na, jeder, der ihn braucht!“, antwortete Promberger grämlich.
„Wer soll ihn denn brauchen?“, fragte ich erstaunt zurück. „Siemers hat einen eigenen, drüben in der Werkstatt, und die Lehrlinge haben in ihrem Aufenthaltsraum auch jeder einen. Sie sollten schon sicherstellen, dass niemand außer Ihnen diesen Rechner benutzt.“
„Jetzt kennt doch jeder das Kennwort!“
„Dann ändern Sie es, aber schleunigst. Oder wollen Sie, dass unter allen falschen Abrechnungen Ihr Zeichen steht?“
„Nein... Wie ändert man das Kennwort?“
Ich schrieb ihm die Schritte auf einen Zettel; Promberger stammte aus einer Generation, der ein Rechenschieber vertrauter war als Tastatur und Maus, und ich war sicher, dass er noch nie in die Tiefen der Systemsteuerung vorgedrungen war. Er kam mit dem Finanzprogramm zurecht und zur Not auch mit der Designsoftware, aber dabei waren die Lehrlinge schon viel gewitzter, was ihn manchmal ärgerte.
„Nehmen Sie nicht gerade den Namen Ihrer Frau, das versucht jeder Hacker als erstes. Und verraten Sie das Kennwort niemandem sonst!“
Mürrisch trollte er sich an seinen Rechner, und ich kehrte in mein Büro zurück und erzählte Felix, dass ich hoffte, wenigstens diesen Zugang verstopft zu haben. Felix lobte mich, was meine Stimmung ungewöhnlich hob – wenigstens etwas lief noch wie früher, wenn ich mich schon sonst nicht mehr im Griff hatte!
Noch etwas war wie immer, stellte ich fest, als ich an einem Spiegel vorbeikam – ich sah auch noch so kompetent und korrekt aus wie sonst. Wenn ich da an gestern Abend dachte, zerzaust, den Rock um die Taille, die Beine gespreizt... Schon bei dem Gedanken wurde mir ganz heiß, halb vor Scham, halb vor Erregung.
„Was hast du? Du bist ganz rot im Gesicht“, fragte Felix verblüfft.
„Ach, nichts. Mir ist nur so warm“, log ich schnell.
„Hier hat es bloß achtzehn Grad!“, wunderte er sich.
„Na, vielleicht werde ich krank?“
„Bitte du nicht auch noch!“, stöhnte er, „dann mache ich die Arbeit von vier Leuten glücklich alleine, das geht dann doch zu weit. Und jetzt muss ich wirklich dieses Marketingkonzept für die Picknicklinie fertig stellen und mit der Werbeagentur sprechen.“
„ W & P ?“
„Klar, die werden immer besser.“
„Stimmt, von denen hab ich noch nie einen doofen Spot gesehen. Ich hab eine klasse Idee, pass auf! Zu jedem Sechserpack Teller packen wir einen dazu, der weicher ist, und den können die Leute als Frisbee nutzen, wenn sie sich vollgestopft haben – zum Abtrainieren.“
„Doof. Aber, na gut, vielleicht sollten wir das vorschlagen. Überhaupt, Spielzeug als Bestandteil des Picknickkoffers. Ich werd´s notieren. Seit wann bist du so kreativ?“
„Vorübergehende Verwirrung“, behauptete ich und floh wieder an meinen Rechner, neben dem Tanja allerlei Kram säuberlich aufgestapelt hatte. Ich arbeitete den Stapel durch, diktierte Tanja einige Memos und Zusammenfassungen und bat sie, die Schriftstücke dazuzuheften und die Mappen dann weiterzuleiten. Viertel nach fünf... Freitag... Felix telefonierte schon mit seinem Schätzchen, Tanja hatte alles erledigt und hing gerade schräg über einem Taschenspiegel, das Wimperntuschenbürstchen in der Hand. „Gleich auf die Piste?“, fragte ich im Vorbeigehen, und Tanja zuckte zusammen und schmierte sich Wimperntusche über die Backe.
„Sorry, ich wollte Sie nicht erschrecken“, sagte ich, während sie hektisch mit einem Taschentuch den Schaden zu beseitigen versuchte, und fuhr meinen Rechner herunter.
„Schon gut, ich weiß auch nicht, warum ich so schreckhaft bin“, murmelte sie und begann ihre Restaurierungsarbeiten von neuem.
„Zurzeit sind Sie überhaupt etwas nervös“, versuchte ich taktvoll zu bohren, „wenn Sie irgendein Problem haben, sagen Sie es doch hoffentlich?“
„Mach ich, aber das ist gar nicht nötig. Trotzdem vielen Dank“, fügte sie höflich hinzu.
„Na gut, dann wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende und gute Erholung.“ Was sollte ich denn sonst sagen?
Heute war ich ausnahmsweise vor Werner zu Hause, trotz eines ausführlichen Abstechers in den Supermarkt. Bis er auftauchte, müde und verschwitzt, direkt aus dem Fitnessstudio, hatte ich schon die ganze Wohnung flüchtig entstaubt und die Böden gesaugt, außerdem das Abendessen vorbereitet und den Fernseher so eingestellt, dass die Fortsetzung dieser Erdbebengeschichte kam. Richtig diensteifrig war ich, wie ein Weibchen. Das musste das schlechte Gewissen sein!
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