Ja, Wilma würde herumzetern, wenn sie davon wüsste – eine Frau, die wirklich liebte, würde freudig alles für den Mann ihres Lebens und die Kinderchen opfern. Schön dämlich, aber Wilma zufolge war ich ja ohnehin eine kaltherzige, karrieregeile Person, die den lieben Werner gar nicht verdient hatte. Nur blöd, dass Werner seine Schwester eigentlich für eine dumme Kuh ohne Interessen hielt, die nicht einmal ihre angebeteten Sprösslinge so weit erziehen konnte, dass man sie in der Öffentlichkeit präsentieren konnte.
Gut, Wilma ließ das ganze Wochenende nichts von sich hören, Werner erwähnte die Sache mit dem Reihenhaus nicht mehr und er trug am Sonntag sogar einige abgegessene Frühstücksteller in die Küche und lobte mich, weil ich seine Hemden mitgebügelt hatte. Nicht einmal der Spaziergang führte beziehungsreich an geeigneten, preiswerten Reihenhäusern vorbei! Warum nagte dann doch eine schwer fassbare Unzufriedenheit an mir? Mir fehlte doch nichts! War es das Gefühl, dass sämtliche Streitfragen nur aufgeschoben und nicht entschieden waren? Der Gedanke an diese grausige Hochzeit? Die leise Langeweile, die mich gelegentlich beschlich? Aber warum fand ich das Wochenende plötzlich langweilig und nicht friedlich wie sonst? Hatte ich etwas Entspannung nach dieser anstrengenden Woche nicht verdient? Neben Werner hertrabend, neben ihm vor dem Fernseher sitzend und ihm gegenüber am Esstisch sitzend dachte ich darüber nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Und nachts im Bett fiel mir auch nicht ein, warum ich plötzlich diese leise Unzufriedenheit verspürte. Lag es daran, dass Werner seine Vorstellung vom Dienstag nicht wiederholte? Etwas mehr Sex hätte unserer Beziehung vielleicht nicht geschadet, aber Sex, um die Probleme zu betäuben, die mir im Kopf herumgingen und die ich nicht einmal klar benennen konnte? Das war schließlich auch keine Lösung.
Am Montag kam ich wieder mit einer gewissen Erleichterung zur Arbeit, obwohl dort ja auch nicht alles zum Besten stand. Decker, der unheilige Florian, ließ sich nicht blicken, umso besser. Wahrscheinlich schnüffelte er zuerst in der Produktion herum, Arbeitsabläufe straffen, Material sparen, Personal sparen, Krankenstand senken... was solche Leute eben so taten.
Ich bastelte an Finanzierungsplänen herum, kontrollierte die Firmenkonten, auf denen ich wiederum keinen Hinweis auf krumme Geschäfte fand, überarbeitete mit Promberger und Siemers zusammen den endgültigen Finanzierungsplan für die Picknicklinie, ließ mir von Tobi Rappelsburg einen Voranschlag für seine Teenieserie zeigen, an dem dann noch einiges zu tun war – von der finanziellen Seite verstand der Kleine eben noch nichts, aber er zeigte Initiative, das musste man anerkennen. Und solcher Schnickschnack wie poppige Ordner, Mappen und billige Täschchen verkaufte sich ohnehin am besten!
So verging die Woche zunächst relativ routinemäßig, abgesehen davon, dass Felix, dieser Sturkopf, nicht glauben wollte, dass der Neue uns wegrationalisieren sollte, und mich der Paranoia beschuldigte.
Am Donnerstag aber fanden wir die nächsten Buchungen, die nicht übereinstimmten. Seit dem ersten Vorfall hatte ich mir angewöhnt, täglich alle Tabellen auszudrucken und gut zu verwahren – und die vom Donnerstag stimmte mit der vom letzten Freitag wieder in einem Posten nicht überein. Dieses Mal ging es nicht um Design und erhöhtes Budget, statt dessen hatte man einen Posten nachträglich verringert, ausgerechnet beim Material, wo wir im Streitfall trotzdem zahlen mussten, um den Lieferanten nicht zu vergrämen. Dafür waren die Personalkosten angestiegen, obwohl ich genau wusste, dass ihn dieser Arbeitsgruppe niemand Neues aufgetaucht und kein Gehalt gestiegen war und auch niemand eine Zulage verdient hatte. Promberger wusste jedenfalls auch nichts, und ich war sicher, sobald die Zahlungen veranlasst waren, würden die Daten wieder geändert werden.
Jedenfalls monierte ich die Beträge, soweit es möglich war, und veranlasste nur die ursprünglichen Beträge. Mal sehen, wer da protestieren würde! Das Kürzel von Promberger war auf jeden Fall nicht authentisch. Ob das ein Hacker war? „Also wenn ich ein Hacker wäre, würde ich das nur einmal machen, für eine ordentlich große Summe. Und dann raus dem Netz, ohne Spuren zu hinterlassen“, schlug Felix vor, und eigentlich musste ich ihm da Recht geben. Warum diese Kleckerbeträge? Lumpige fünfhundert Euro? Übte da jemand? Das erhöhte doch nur die Gefahr, erwischt zu werden!
Felix besorgte uns die Netzprotokolle, aber mit denen konnten wir mangels Erfahrung nicht allzu viel anfangen, und unser Systembetreuer war mal wieder krank. Wir debattierten den halben Nachmittag lautstark über das Problem, während Inge und Tanja miteinander tuschelten, uns ab und zu mit vorwurfsvoller Miene neue Unterlagen auf den Schreibtisch packten und grundsätzlich etwas nervös wirkten. Warum, verstand ich auch nicht – es sei denn, sie hatten unsere bildschöne Nemesis schon durch die Korridore schleichen sehen und waren ihr auf der Stelle verfallen. Nein, Blödsinn, der war für die beiden Hühner doch zu alt! Und Tanja war dazu viel zu vernünftig...
Vernünftig war ich normalerweise auch – und davon war im Moment nicht mehr viel zu spüren. Warum sollte es Tanja anders gehen, jung und beeinflussbar, wie sie noch war?
Als sie das nächste Mal mit einer Mappe hereinkam, fragte ich sie: „Wie finden Sie diesen Neuen, der hier „hereinschmecken“ soll?“
„Welchen Neuen? Ach, was das das Meeting am Freitag? Den hab ich noch
nicht zu sehen gekriegt, ist er so furchtbar? Übrigens, das hier sollten Sie mit Priorität A behandeln, sagt Winter, er braucht die Kalkulation in einer Stunde wieder.“
Ich nahm mir die Mappe vor und schickte sie wieder zurück. Also war Tanja nicht wegen des Neuen nervös – und außer mir hatte noch keiner den Verdacht, dass es um Einsparungen ging. Was hatte sie denn dann? Und warum guckte die Karr schon wieder so frech? So, als wüsste sie was, was sonst keiner wusste. Ich sollte Felix mal bitten, sie etwas besser im Auge zu behalten – aber nicht mehr heute, er hatte sich und sein zerwühltes Outfit schon wieder ins Direktionsvorzimmer getragen.
Tanja und Karin packten auch gerade zusammen; ich nahm mir seufzend noch einige dringende Unterlagen vor und warf sie dann in den Ausgang; der Fall der seltsamen Buchungen hatte mich heute schon genug Zeit gekostet. Als ich fand, dass es genug war, stellte ich erschrocken fest, dass es schon wieder halb sieben war. Werner würde eingeschnappt sein! Hastig packte ich meinen Kram zusammen, schloss alle Unterlagen weg und trabte durch das verwaiste Vorzimmer nach draußen.
Die Tiefgarage war auch schon so gut wie leer, das übliche Feierabendgegröle war verstummt. In der hintersten Ecke stand mein silberner Golf und blinkte freundlich, als ich auf die Fernbedienung druckte.
„Frau Thibault?“ Ich fuhr zusammen und ließ vor Schreck alles fallen, Tasche, Schlüssel, Handschuhe. „Großer Gott, müssen Sie sich so anschleichen!“, schimpfte ich und funkelte ihn an.
„Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken“, murmelte Decker.
„Was wollen Sie denn dann?“, fragte ich pampig und sammelte alles wieder auf. Erst die Leute erschrecken und dann rauswerfen, das konnte ihm so passen! „Ich weiß es nicht.“ Er stand dicht vor mir und sah mich unverwandt an, dann lächelte er etwas kläglich und mein Zorn verrauchte auf der Stelle.
Als er noch einen Schritt auf mich zutrat, wich ich nach hinten aus. Das ging einige Male gut, aber dann prallte ich mit dem Rücken gegen meinen Wagen.
Decker kam noch näher.
„Was soll das werden?“, murmelte ich mit einem allerletzten Rest an kritischem Bewusstsein, aber ich hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, als ich Deckers Finger spürte, die sich hart in meine Schultern gruben. Dann wurde es dunkel vor meinem Gesicht, weil sein Kopf das trübe Licht vollständig abschirmte, als er mich küsste.
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