Elisa Scheer - Ein gestörtes Verhältnis

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Vor zwölf Jahren wurde sie entführt, misshandelt und schließlich wieder freigelassen. Verarbeitet hat die Informatikerin Judith Schottenbach diese traumatische Erfahrung niemals. Weder ihr Vater, ein Software-Unternehmer, noch ihre Mutter, die alternde Schauspielerin Jessica Rother, finden Zugang zu ihr. Dass ihre Mutter ihre Sorgen und Befürchtungen hemmungslos in jedes Pressemikrofon posaunt, macht das Mutter-Tochter-Verhältnis nicht besser.
Als der Entführer aus dem Gefängnis entlassen und kurz darauf tot aufgefunden wird, eskaliert die Situation.
Ein Team um Kommissar Waldmann (aus früheren Bänden bereits bekannt) verzweifelt schier an Jessica Rothers unglaubwürdig-übertriebenen Aussagen, widersprüchlichen Informationen aller anderen Beteiligten und den Lücken in der Akte über die Entführung – denn in der Vergangenheit scheint die Lösung des Falls zu liegen.
Ein neuer Kollege aber findet ganz langsam einen Weg, Judiths Misstrauen zu überwinden und ihr beim Kampf gegen ihre Mutter beizustehen, so dass sich allmählich zartere Bande entwickeln…

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Ein gestörtes Verhältnis. Kriminalroman

Elisa Scheer

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2016 Elisa Scheer/R. John (85540 Haar)

Cover: privat

www.elisa-scheer.de

ISBN 978-3-7375-4774-1

1

Grauenvoll.

Morgen war der Wagen hoffentlich fertig, dann konnte sie wieder unbehelligt zur Arbeit fahren. Und bei der nächsten Panne würde sie sich einen Leihwagen nehmen, basta.

Dieses Pack im Bus! Wenn sie etwas hasste, dann war es das unglaubliche Gedränge, die Menschen, die sie berührten, die Körperteile, die sich an sie drückten, egal, ob aus Versehen oder mit Absicht. Ihre Privatzone war ihr heilig, aus gutem Grund.

Das ist dein Tanzbereich und das ist mein Tanzbereich. Ich komm nicht in deinen und du kommst nicht in meinen. Oder so ähnlich. Sie lächelte etwas bitter. Dirty Dancing… sie tanzte nie, aber den Film mochte sie, sehr sogar. Als er in die Kinos gekommen war, konnte sie noch nicht einmal alleine auf einen Kinositz krabbeln, aber sie hatte ihn Jahre später im Fernsehen gesehen und sich sofort die DVD gekauft.

Tanzen im Fernsehen war okay, selbst tanzen ging gar nicht.

Nun, morgen hatte sie wieder ihren Wagen und ihre schützende Hülle um sich herum. Und dann war alles wieder gut.

Sie eilte die Straße von der Bushaltestelle aus entlang, bis sie schließlich in einen Hofeingang einbiegen, einen etwas merkwürdig gestalteten Hinterhof durchqueren und die schwere Haustür im Rückgebäude aufschließen konnte.

Eigentlich gefiel es ihr hier nicht so besonders, aber von den wenigen freien Zweizimmerwohnungen in der Altstadt war diese die einzige gewesen, die wirklich gute Sicherheitseinrichtungen aufzuweisen hatte – abschließbare Fenster, dicker Riegel an der Wohnungstür, Rauchmelder und keinen Balkon. Ja, und eine wunderbar glatte Fassade. Außerdem war die Haustür grundsätzlich abgeschlossen und die Briefkästen waren von außen zu befüllen. Sicher war sie hier, das auf jeden Fall.

Aber sonst… naja.

Der Boden war Laminat und kein richtiges Parkett. Die winzige Küche war dürftig – Herd, Kühlschrank, Spüle, ein Oberschrank – und billigste weiße MDF, aber immerhin schon drin gewesen, so dass sie sich damals schon einmal nicht herumärgern musste. Sie hatte nur ein Bett, einen Schrank (für die komische Nische, die im Schlafzimmer durch das enge Bad entstanden war), ein Sofa, einige stapelbare Regale und Wandhaken für den Flur gekauft und sich in zwei Stunden eingerichtet.

Viel Besitz hatte sie schon bei Papa nicht mehr gehabt. Seit dem Vorfall damals hatte sie das Interesse daran verloren, Besitz anzuhäufen. Was sie an Wertsachen besaß – Schmuck von Firmung, Abitur, Geburtstagen (ihre Mutter fand ja, so etwas brauche ihre geliebte Tochter) – hatte sie in Papas Safe gelassen. Sie brauchte den Kram nämlich nicht, und wenn doch, konnte Papa ihr ja etwas in die Arbeit mitbringen.

Sie sah sich nachdenklich um, legte ihre Handtasche auf das Sofa, räumte zwei Bücher und eine DVD ins Regal zurück, beäugte einen Kerzenhalter kritisch und stellte ihn in das einzige geschlossene Fach, so dass der kleine Tisch ganz leer war. Besser, ja.

Sie sollte etwas essen… fünf, also lag das Frühstück schon zehn Stunden zurück. Aber eigentlich hatte sie – wie meistens – keinen Hunger.

Appetit? Den schon gar nicht.

Erst einmal umziehen und dann einen Kaffee!

Die kleine Kaffeemaschine war so ungefähr der einzige Luxusgegenstand in dieser Wohnung. Naja, Luxus – sie hatte einen knappen Hunderter gekostet.

Sie hantierte mit Wasser und Kaffee und stellte einen Becher unter, dann suchte sie sich zwei Tomaten und eine Scheibe Vollkornknäcke zusammen, das reichte ja wohl.

Herrlich still war es in der Wohnung – aber heute ging ihr das Fehlen jeglicher Geräusche, wenn man von der Kaffeemaschine absah, merkwürdigerweise auf die Nerven.

Sie schlüpfte in Sportklamotten, trug den Teller ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein, dann verzehrte sie zuerst die beiden Tomaten und schließlich das Knäckebrot, um danach ihren Lieblingssitzplatz, das alte Trimm-dich-Rad, vor den Fernseher zu rücken und nach einer Musiksendung zu suchen. Zu früh… die uralte Hitparade kam erst um Viertel vor sieben.

Dann eben Boulevard-Kram, vielleicht hatte irgendeine Prinzessin ein Kind bekommen oder eine Schauspielerin auf dem roten Teppich ein hinreißend geschmackloses Outfit getragen.

Eigentlich völlig doof, aber man konnte dabei schön vor sich hin radeln und sich so einigermaßen fithalten. Hinter einem Schreibtisch ging das schließlich nicht, und joggen… dazu fehlte es ihr meistens an Mut.

Der Vorfall damals hatte sie zu einer völligen Maus gemacht, ärgerte sie sich, während sie in die Pedale trat. Irgendwann würde sie zu einer paranoiden Menschenfeindin – oder war sie das schon? Wahrscheinlich. Wenigstens auf dem besten Wege dorthin.

Sie strampelte weiter und genoss das Ziehen in den Waden und die Tatsache, dass sie ins Schwitzen geriet. Das reinigte den Körper, bildete sie sich ein.

Irgendwelche kleinen Prinzessinnen waren eingeschult worden. Judith schaute zu, wie sie, mit Schultüten bewaffnet, von ihren königlichen Eltern und einer Meute Fotografen einer pädagogisch stets ganz besonders wertvollen Grund- oder Vorschule zustrebten.

Eigentlich furchtbar, die armen Kinder: immer die Presse am Bein… Judith schnaufte, teils wegen der Anstrengung, teils wegen ihrer eigenen Abneigung gegen Paparazzi.

War ihr eigener erster Schultag eigentlich nicht genauso verlaufen? Damals hatte das Blitzlichtgewitter sie noch nicht gestört, und ihre schöne Mutter hatte es natürlich genossen. Naja, Blitzlichtgewitter? Eher ein bescheidenes Wetterleuchten, mit gekrönten Häuptern konnte sie nämlich nicht so ganz mithalten.

War Papa eigentlich auch mitgekommen – oder hatte es geheißen Mach du das, Jessie, ich brauche so einen Almauftrieb nicht?

Huch? Ach nein, nicht schon wieder! Premiere eines Films, den Judith sich garantiert nie anschauen würde. Alles, was zurzeit Rang und Namen hatte, hatte mitgespielt, und jetzt standen sie auf dem roten Teppich vor dem Premierenkino in Berlin und guckten dekorativ über die Schulter. Und wer grinste besonders breit in die Kameras? Ihre Mutter natürlich, die doch bloß Premierengast war.

Immerhin war ihr Kleid nicht die Peinlichkeit des Tages, auch wenn sie – nach Judiths Ansicht – für diesen Riesenausschnitt ein bisschen zu alt war. Immerhin war sie Großmutter, auch wenn man das nicht erwähnen durfte.

Kopfschüttelnd radelte sie weiter, bis sie die zehn Kilometer, die sie sich täglich vornahm, zusammen hatte, dann ging sie duschen, stellte dabei fest, dass der Duschkopf schon wieder verkalkte, schlüpfte in ihre alten Feierabendjeans und einen ebenso alten Pullover und kuschelte sich auf dem Sofa zurecht. Mama konnte den Glanz der Filmwelt einfach nicht loslassen…

Andererseits: Warum sollte sie das eigentlich tun? Sie war doch noch einigermaßen im Geschäft!

Zumindest, was diese Serie betraf. Judith grinste vor sich hin, wenn sie an Mamas Rolle darin dachte – da spielte sie sich doch eigentlich bloß selbst, konnte so schwer nicht sein… Der Vorabendkrimi lief einmal pro Woche, was die neuen Folgen betraf, und täglich auf einem dieser billigen Wiederholungskanäle (Zweitverwertung?), wo gerade wieder einmal die erste Staffel durchgenudelt wurde. Sie war die nervende Mutter des jüngsten Kommissars, die in der Kleinstadt, die als Schauplatz diente, Gott und die Welt kannte, weil sie das angesagteste Klamottengeschäft führte und sowohl Opfer als auch Mörder stets eben erst in ihren Umkleidekabinen gestanden hatten. Immerhin war das Ambiente nicht allzu alpenländisch – man musste mittlerweile schon für Kleinigkeiten dankbar sein.

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