1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Der Kohlmarkt wies ein paar hübsche Fassaden auf; besonders faszinierte mich eine trotz der großen Schaufenster recht altmodisch wirkende Papierhandlung. Das musste in den späten Zwanzigern der letzte Schrei gewesen sein. Schade, dass nicht ein paar Gestalten in der passenden Mode davor standen! Erst war der Blick frei, aber bis ich eine Position gefunden hatte, von der aus ich exakt diese Ladeneinbauten im Sucher hatte und die Belichtung stimmte, hatten sich drei poppig gestylte Mädchen vor dem Schaufenster aufgebaut. Die wollten sich doch keine Visitenkarten drucken lassen?
Ich wartete geduldig; schließlich zogen sie weiter und wurden nahtlos von einer jungen Mutter abgelöst, die ihrem Sprössling im Buggy ausführlich die Nase putzte. Ich fand, das könnte sie gut woanders tun, und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. So toll war die Fassade wahrscheinlich gar nicht, aber wenn man mich nicht fotografieren ließ, was ich wollte, wurde ich stur. Den Papierladen wollte ich haben, egal wie lange es dauerte, schließlich hatte ich ja Zeit!
Endlich schob die Frau ihren Buggy weiter und ich schraubte wieder am Objektiv herum. Äh, jetzt war die Sonne hinter einer Wolke verschwunden und die Belichtung stimmte wieder nicht mehr. So, jetzt! Nein, da stand ja schon wieder einer! Und was für ein hässlicher Vogel. Ich hatte genügend Zeit, ihn zu betrachten, während er offensichtlich bestrebt war, die Auslage komplett auswendig zu lernen.
Kräftig, grauhaarig, in einer Schimanskijacke, auch in grau, mit tausend voll gestopften Taschen, einen Fotokoffer über der Schulter, ausgebeulte Jeans, Naturledertreter, nicht mehr neu. Im Halbprofil sah man ansonsten nur, dass er miserabel rasiert war und eine ziemliche Nase hatte. Fast so ein Zinken wie bei mir, überlegte ich und schielte auf meine eigene, etwas zu schmale und zu lange Nase. Wenigstens stand meine aber nicht gar so weit vor! Er stand immer noch unbeweglich vor dem Schaufenster, das den Druck von Visitenkarten ganz nach Wunsch anpries.
„Jetzt mach dich vom Acker, Alter“, murmelte ich vor mich hin und verstellte aus Versehen schon wieder alles, was ich vorhin mühsam zurechtgeschraubt hatte. Na, ich hatte ja Zeit, der Kerl machte immer noch keine Anstalten, zu verschwinden. Wenn er wenigstens etwas dekorativer gewesen wäre!
Er wechselte den Standort und machte sich nun vor dem anderen Fenster breit.
„Himmel noch mal, was ist denn dort so interessant! Jetzt verzieh dich endlich und verschandel mir nicht das Foto!“, murrte ich vor mich hin und zoomte zum Spaß etwas näher. Ein Dreitagebart, äh! Allmählich taten mir die Füße weh.
„Jetzt zisch endlich ab, du nervst langsam“, pöbelte ich vor mich hin, „guck, da drüben ist doch ein feines Schaufenster, lauter Fotozubehör. Da passt du viel besser hin, jetzt geh mir endlich aus dem Bild.“
Er drehte sich um und grinste mich frech an. O Gott – hatte er das etwa gehört? Allzu leise hatte ich nicht vor mich hingeschimpft! Meine Wangen brannten, aber ich schoss schnell zwei Fotos und stellte dann fest, dass er wirklich auf dem Weg zu dem Fotoladen war.
„Sie sehen, ich befolge Ihren Rat! Besser so?“
„Entschuldigung“, antwortete ich verlegen, „ich wollte nicht unhöflich sein, aber ich hatte schon so lange gewartet und Sie sahen aus, als wollten Sie gleich vor dem Schaufenster einschlafen. Ich wollte Sie nicht vertreiben.“
„Haben Sie auch nicht“, beruhigte er mich, „ich war fertig. Ich lasse mich nicht vertreiben.“ Er stellte sich dicht neben mich und musterte kritisch die Fassade. „Seltsamer Blickwinkel. Ich würde ja eher – ach, was soll´s. Viel Spaß noch!“
Er verschwand im Fotoladen. Hm. Er würde eher – was? Das hatte geklungen, als verstünde er etwas davon. Ich wechselte die Position und fand mehrere bescheuerte und einen recht reizvollen Blickwinkel, danach machte ich noch einige Detailaufnahmen und zog befriedigt von dannen. Bis ich zum Graben kam, hatte ich so viele Fotos, dass ich sie mal ausgedruckt sehen wollte. Ich fand einen Fotoladen, der alles hatte, was ich jetzt so brauchte – einen Schnelldrucker mit anständigem Fotopapier, ein Übertragungskabel, das zu meiner Kamera passte, einen Rechner und recht günstige USB-Sticks. Ich kaufte mir einen zu acht Gigabyte, der bestimmt viertausend Fotos fassen musste, stöpselte meine Kamera ein, übertrug alles auf den Rechner und von da auf den Stick, druckte alle Bilder, die nicht direkt misslungen waren, einmal aus und war zufrieden mit mir. Dann hatte ich mir jetzt wirklich eine Pause verdient.
Ich verzog mich in eins der Cafés am Graben – draußen wurde es langsam reichlich frisch – und blätterte die Fotos durch, machte Notizen, las und trank Kaffee – Melange - , bis ich von dem vielen Koffein ganz kribbelig war und dringend etwas zu essen brauchte. Die Torten sahen hinreißend aus, aber vor meinem geistigen Auge erschien ein fettig ausgebackenes Backhendl und verdrängte alle Fotos und alle leidenden Prinzessinnen. Na gut, suchte ich also nach einem Backhendl!
In der Kärntner Straße fand ich ein einschlägiges Restaurant mit ziemlich stolzen Preisen. Das Backhendl war aber köstlich, und ich hatte einen Tisch für mich alleine; gestern hatte die Angst, ich müsste mit den drei Japanern auf Englisch Konversation treiben, mir fast den Appetit ruiniert. Heute aß ich unbelastet, sogar Pommes Frites dazu, und hinterher war mir auf eine köstliche Weise ziemlich schlecht. Entwickelte ich jetzt eine Art Fresssucht, nachdem ich mich jahrelang zwischen Tür und Angel von irgendwelchem Kram ernährt hatte? Na, wenn es über die paar Tage nicht hinausging, konnte es ja so schlimm nicht sein, ich war ohnehin zaundürr.
Als ich aus dem fettigen Mief der Kneipe wieder nach draußen trat, erschien mir die kühle Luft frisch und klar, obwohl die Autos vorne am Opernring vorbeirauschten und die Abgaskonzentration garantiert nicht unbedenklich war. Ich trottete zurück zum Hotel, sehr zufrieden mit mir und meinem Tagwerk. Vielleicht konnte ich ja doch noch als Fotografin aufsteigen? Aber ohne es korrekt gelernt zu haben? Hatten Leute wie Ansel Adams oder Anni Leibowitz ihr Handwerk eigentlich gelernt oder waren sie auch Quereinsteiger? Keine Ahnung, vielleicht sollte ich morgen mal eine Buchhandlung oder ein Internetcafé aufsuchen und mich informieren...
Ich kam an einem Billa vorbei. Ha, den kannte ich aus der Werbung zu Hause! Und offen hatte er auch noch – gerade noch. Halb sieben... Ich sprang hinein und füllte mir schnell eine Tüte mit grünen Äpfeln, schnappte mir eine Zweiliterflasche Diätcola und zahlte. Unmittelbar hinter meiner rechten Ferse wurde die Ladentür abgesperrt. Glück gehabt!
Aber um sieben Uhr schon auf dem Zimmer? Na und, ich war tatsächlich etwas müde, und Lust auf so eine köstliche heiße Dusche hatte ich auch schon wieder. Wenn ich hier weiter so schwelgte, würde ich zu Hause echte Probleme mit meiner Eisdusche kriegen. Ich musste umziehen, eindeutig!
Erst einmal stellte ich mich eine gute Viertelstunde lang unter die Dusche, dann wusch ich zwei T-Shirts und zwei Slips mit Shampoo im Waschbecken durch und breitete sie auf der Heizung aus, bevor ich mich in das riesige Badetuch wickelte und mich mit dem Notizbuch an den winzigen Schreibtisch setzte.
Kaum hatte ich begonnen, mir aufzuschreiben, welche Fotos nach meiner Ansicht am besten geworden waren, und zu überlegen, was ich morgen unternehmen sollte, klingelte mein Handy. Ach was! Hatte nun doch jemand gemerkt, dass ich verschwunden war?
Judith war dran. Ob ich noch Lust auf ein Bierchen hätte?
„Och, weißt du, ich habe gerade lange geduscht und jetzt sitze ich in ein Handtuch gewickelt herum... Und plattfüßig bin ich auch.“
„Also nicht? Schade. Hat dich deine Chefin wieder rumgescheucht?“
„Nein, die ist nicht mehr meine Chefin. Ich hab heute so viel besichtigt.“ Ich grinste vor mich hin. Wie lange würde es dauern, bis sie endlich fragte Wo bist du eigentlich? ?
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