Eilig machten sie sich auf den Weg.
Das Boot mit den Hunden erreichte keine zehn Minuten später das Ufer. Die Wächter machten sich bereit, die geflohenen Gefangenen zu suchen. Ihnen war nicht wohl dabei, denn von den Gefahren des Dschungels hatten alle schon gehört. Aber sie wussten auch, welche Strafen ihre Vorgesetzten im Kaiserreich über sie verhängen würden, wenn sie die Gefangenen nicht wieder einfingen. Denn wegen des Arbeitermangels könnte die Ernte des wertvollen Lassachs nicht rechtzeitig eingebracht werden, so dass die Adeligen nicht genügend von ihrem Rauschmittel bekamen.
So machten sie sich mit dem festen Vorsatz auf den Weg, die Flüchtigen zurückzuholen und deren Befreier gnadenlos zu bestrafen.
Ein Bote kommt nach Eszger
Mit einer schnellen Bewegung zog Rall den Faden aus der verheilten Wunde der jungen Frau. Sie zuckte zusammen, nickte ihm dann aber dankbar lächelnd zu.
„Diese Methode, eine Wunde zu vernähen, haben wir den karolischen Freischärlern zu verdanken“, erklärte Rall dem jungen Heiler, der neben ihm stand und ihm aufmerksam zusah. „Voraussetzung ist, dass man absolut sauber arbeitet. Der Faden muss fest sein und eine Stunde lang abgekocht werden, bevor man die Wunde vernäht. Die Wunde wird vorher mit dieser Salbe hier bestrichen, die du aus Karach-Kraut gewinnen kannst. Sie betäubt und verhindert Wundbrand und andere Komplikationen.“
„Danke, dass du dir die Zeit nimmst, mich zu unterweisen“, sagte Harlan, der Heiler. „Deine Erfahrung wird mir nützlich sein.“
Sie wandten sich einem fiebernden Patienten zu, dem Harlan einen Kräuterumschlag machte. Rall war mit der gewählten Behandlungsmethode und der Kräutermischung zufrieden. Damit war die tägliche Visite beendet.
„Die Menschen in Eszger wissen es zu schätzen, dass du ihnen in der Zeit der Not zu Hilfe kommst“, sagte Rall. „Ich werde noch vier Wochen hier im Ort bleiben, dann hast du alles gelernt, was ein Heiler am Beginn seiner Karriere wissen muss.“
Harlan betrachtete den Katzmenschen überrascht. Ralls gelbliches, dichtes Fell und sein intelligentes Katzengesicht waren ein gewohnter Anblick geworden in Eszger. „Du willst den Ort so bald verlassen? Wir hofften, Zzorg und du würden bis nächstes Jahr im Sommer bleiben, um dann mit Macay eine Expedition in den Norden des Kontinents zu unternehmen.“
Ein Schatten erschien in der offenen Tür. Dann bückte sich jemand und trat herein. Es war Zzorg, der Echsenmensch, dessen riesiger, dreieckiger Eidechsenschädel suchend hin und her schwankte. „Wo ist Macay?“, fragte er, ohne zu grüßen.
„Mit ein paar Männern zum Lager. Er will einen Weg finden, die Gefangenen zu befreien.“
„Gut. Ein Bote ist eingetroffen. Er kommt aus einer Siedlung meines Volkes nahe der Südwestspitze des Nebelkontinents. Dort hat man Kontakt mit Schmugglern, die Gewürze von den Brückeninseln holen.“
„Was gehen mich Schmuggler an?“, fragte Rall.
„Der Kaiser geht dich etwas an.“
„Oh.“ Rall schwieg einen Moment. „Ist er endlich gestorben?“
„Er sucht weiter nach dem Lebenselixier. Die Schmuggler sagen, auf den Brückeninseln gebe es Hinweise auf eine Station der Alten Menschen. Sie soll fast so gut ausgestattet sein, wie es die im Herzen des Nebelkontinents es war.“
Ralls hin und her peitschender Schwanz zeigte, wie aufgeregt er war. „Das kann nicht sein. Die Stimme von Bea hat uns erklärt, es gebe auf dieser Welt keine Möglichkeit mehr, ein entsprechendes Elixier herzustellen.“
„Bea kann sich geirrt haben. Sie war Jahrhunderte lang von der Außenwelt abgeschnitten.“
„Du hast recht. Bring mich zu diesem Boten.“
Sie verließen die Hütte des Heilers und durchquerten den Ort Eszger. Nach dem Angriff durch die Kaiserlichen war die Siedlung wieder völlig instand gesetzt worden. Die Kaiserlichen konzentrierten damals ihre Kräfte auf die Suche nach Macay und seinen Begleitern, deshalb entging der Ort einer zweiten Zerstörung.
In einem Gasthaus trafen sie den Boten, einen kleinen Echsenmenschen mit einer krokodilähnlichen Schnauze, in der schief durcheinander gefährlich aussehende Zähne wuchsen.
„Azzard“, stellte Zzorg den Boten vor. Er setzte sich mit Rall an den Tisch und bestellten das hier übliche Dünnbier.
„Schwierige Zeiten“, zischte Azzard, nachdem er Rall aufmerksam gemustert hatte. „Gefährliche Zeiten.“
„Sicherlich nicht so gefährlich, wie sie vor kurzem noch waren, als die kaiserlichen Truppen den Nebelkontinent zu beherrschen versuchten“, schränkte Rall ein. „Was gibt es Neues?“
„Wo ist der Junge, Macay?“
„Im Dschungel unterwegs.“
„Schlecht. Wir brauchen ihn.“
„Wenn du uns sagst, wozu, werden wir versuchen, ihn zu finden“, entgegnete Rall. Das Verhalten des Boten ärgerte ihn, auch wenn er wusste, dass er nichts am Temperament der Echsenwesen ändern konnte. Dieser Echser schien wichtige Informationen zu haben, benahm sich jedoch, als wäre er nur gekommen, um über die schlechten Zeiten zu klagen.
„Er muss uns helfen. Gegen die Kaiserlichen.“ Der Bote winkte ein Schankmädchen heran und ließ sich noch einen Krug Bier bringen.
„Die kaiserlichen Soldaten sind nicht mehr auf dem Nebelkontinent“, stellte Rall fest.
„Sie werden wiederkommen. Über die Inseln.“
„Warum? Nun rede doch, verdammt noch mal!“
Zzorg legte seinem Freund beruhigend die Hand auf den Arm. „Berichte“, forderte er den Boten auf.
„Der Kaiser sucht das Elixier des Lebens.“
„Das gibt es nicht mehr, weil wir das Herz des Nebelkontinents zerstört haben. Das war der einzige Ort auf der Welt, an dem es hergestellt werden konnte. Weiter.“
„Es gibt noch einen Ort. Auf den Brückeninseln. Der Kaiser hat bereits eine Kolonie errichten lassen. Er wird bald seine Armee dorthin in Marsch setzen. Diese Armee wird, sobald der Kaiser und die Adeligen unsterblich sind, weiterziehen und beginnen, die Welt zu erobern.“
Rall sah Zzorg an. Beide dachten, dass dies nur unbegründete Ängste aufgrund von Gerüchten sein konnten. Aber ganz sicher waren sie sich doch nicht. Sie wussten nicht mehr als das, was ihnen Bea, die Stimme der Kontrollinstanz, erzählt hatte. Das musste nicht die ganze Wahrheit sein.
„Sie werden die Welt erobern. Von den Brückeninseln aus kann man schnell zu uns segeln“, schloss der Echsenbote seine Rede. Er trank seinen Krug leer.
„Die Brückeninseln liegen wie eine Brücke im Süden zwischen dem Kaiserlichen Kontinent und dem Karolischen Kontinent. Sie berühren den Nebelkontinent nicht.“ Rall zog mit dem Finger die Linien einer Weltkarte auf den Tisch. „Wenn eine kaiserliche Armee von den Inseln aus etwas erobern will, dann zweifellos Karolien.“
„Sie werden zu uns kommen“, beharrte Azzard. „Sie werden unsere Dörfer zerstören, unsere Kinder töten, unsere Rasse vernichten.“
Genervt stand Rall auf, als wollte er gehen. „Das ist Unsinn. Als hätte der Kaiser nichts Wichtigeres zu tun, als sich um ein paar kleine Dörfer voller Echser zu kümmern.“
„Wir unterstützen die Schmuggler“, antwortete Azzard mit klagendem Ton. „Das wird uns der Kaiser nie verzeihen.“
„Was wird geschmuggelt?“ Rall blieb stehen.
„Gewürz. Die Gefangenen auf den Brückeninseln müssen Gewürz ernten. Ähnlich wie in den Lagern an der Ostküste unseres Kontinents Lassach geerntet wird.“
„Was kann man mit diesem Gewürz anfangen?“
„Es ist selten und teuer. Man sagt, den Menschen schmeckt es. Aber uns brennt es nur auf der Zunge. Deshalb sind wir am Gewürz nicht interessiert. Die Schmuggler bestechen die Wächter in dem Gefangenenlager auf den Brückeninseln. Die zweigen ein wenig von der Ernte ab und verkaufen es an die Schmuggler. Ein Kistchen voll davon bringt auf dem Schwarzmarkt in Mersellen mehr als sein Gewicht in Gold.“
Читать дальше