Na gut, hatte er sich gesagt, beim MorgenExpress kann man auch was lernen, und man spezialisiert sich nicht zu früh. Immerhin war er noch nicht mal dreißig! Aber bald. Und an seinem dreißigsten Geburtstag, das hatte er sich fest vorgenommen, würde er
a) das Rauchen aufhören
b) etwas Besseres als Lokalreporter sein, egal, wo.
c) die Frau seiner Träume kennen gelernt haben.
Er hatte noch sieben Monate Zeit, aber bis jetzt sah es nicht so aus, als würde er auch nur einen dieser Vorsätze rechtzeitig verwirklichen können. Silvia konnte er haben, Silvia, die die Horoskope und die Lokalglosse machte und Peter seit zwei Jahren anschmachtete, aber die wollte er nicht. Zu weich und warm und willig. Genau wusste er nicht, was er wollte, aber Kratzbürsten reizten ihn auf jeden Fall mehr als diese heiratsgeilen Schnecken mit ihrer biologischen Uhr. Ecken und Kanten und ein zynisches Mundwerk, so eine Frau hatte er noch nie getroffen. Wahrscheinlich gab es so was bloß im Film. Toughe Kommissarinnen oder so – ihm fiel nicht einmal da ein konkretes Beispiel ein.
Vorne machte sich Unruhe breit, anscheinend tauchten die beiden Kandidaten auf. Nachdem nun klar war, dass Katzeder sich längere Zeit sehr schonen musste, hatten sich endlich beide dazu bekannt, seine Nachfolge anzustreben, und der Fraktionsvorsitzende im Rathaus, Eberhard Loos, hatte diese Pressekonferenz einberufen – in dem offenkundigen Irrglauben, so die Sache unter Kontrolle halten zu können. Warum entschied die Partei das nicht einfach? Wollte man einen auf basisdemokratisch machen?
Schmieder und Richter traten auf und setzten sich an den mit Mikrofonen gespickten Tisch, Loos saß dazwischen, was den Eindruck erweckte, er wollte sie von Handgreiflichkeiten abhalten. Guter Gedanke! Peter kritzelte fleißig und kontrollierte noch einmal sein Aufnahmegerät.
Richter und Schmieder warfen sich unfreundliche Blicke zu und lächelten dann verkrampft im Blitzlichtgewitter.
Ziemlich ähnlich äußerlich, die beiden, stellte Peter fest, beide schmal und hungrig, eher dunkel im Typus, schmallippig, helläugig, ein bisschen asketisch. Nicht, was man hier so schätzte. Katzeder war eher der Prototyp eines bayerischen Bürgermeisters, wenigstens so, wie der Rest der Welt ihn sich vorstellte.
Soweit der Rest der Welt sich für diese Frage überhaupt interessierte. Es hatte ja schon was von dem legendären Sack Reis, der in China umfällt... Wieder nichts mit der internationalen Berühmtheit!
Erst einmal verkündeten beide ihre Pläne, Schmieder als amtierender Zweiter Bürgermeister zuerst. Hochinteressant – mehr Geld in die Stadt, geringere Steuern für alle, Ausbau des Stadtrings im Süden, wo seit zwanzig Jahren noch ein Stückchen fehlte (Zwischenruf: „Wozu denn?“), neue Kindergärten, Rauchverbot an den Bushaltestellen (schallendes Gelächter im Saal), Verbot des Nacktbadens im Prinzenpark (erheitertes Geraune), Kulturförderung.
Bevor die Journalisten nachbohren konnten, ergriff Dr. Richter das Wort. Zehn Jahre jünger als Schmieder, „von hier“, aber ansonsten der gleiche Bürokrat. Nur sein zögerndes Lächeln sorgte dafür, dass zumindest die Mädels dahin schmolzen. Sein Programm hörte sich kaum anders an, nur hatte er den Ausbau des Stadtrings durch eine neue Fußgängerzone rund um den Klosterplatz ersetzt und wollte statt neuer Kindergärten lieber die Gymnasien der Stadt sanieren, wo nötig. Außerdem – und das würde ihn kaum populär machen – wollte er mit einem kräftigen Rotstift die Liste der Städtischen Zuschüsse durchgehen: „Damit ließen sich vielleicht sogar die Großprojekte meines geschätzten Konkurrenten finanzieren...“ Sein Lächeln war ansteckend, es gab Gekicher im Saal und Schmieder lief vor Ärger rot an.
Und schließlich wollte Richter ein neues Wohnungsbauförderungsprogramm für junge Familien auflegen, was spontanen Beifall auslöste.
Peter war ratlos. Beide waren ganz vernünftig, aber nicht sehr spannend, beide hatten mit der Stadt nichts übermäßig Aufregendes vor. Die Sache mit dem Stadtring war allerdings wirklich Quatsch, gerade im Süden der Stadt war der Verkehr eher gering und die Ersatzstrecke war immerhin ein Stück Bundesstraße, das reichte ja wohl. Und die Wohnungen – sicher sinnvoll, aber wahrscheinlich zu teuer oder nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Die ersten Fragen hielten sich im Rahmen – wie Schmieder seine Projekte finanzieren und zugleich die Steuern senken wollte, wo doch die Gewerbesteuereinnahmen ohnehin schon so abgesunken seien? Ob Richter bei jungen Familien etwa auch an Alleinerziehende denke? (Dies von einem sehr konservativen Sonntagsblatt, bei dem sich Peter immer wunderte, wer das überhaupt noch las.) Ob die beiden ihren Wahlkampf gemeinsam betreiben würden? Höhnisches Gelächter im Saal und auf dem Podium.
„Kaum“, antwortete Richter und lächelte in bewährter Manier, „ich werde mich an die Agentur halten, die bisher immer für unsere Partei so gut gearbeitet hat, und Herr Schmieder möchte neue Wege einschlagen.“
Das klang wie ein Treuebruch.
Plötzlich öffnete sich die Tür und ein sehr jung aussehendes Mädchen kam herein, mit langem blondem Zopf und in Jeans und Pullover. Sie sah sich suchend um, neugierig beobachtet von allen Anwesenden, und kletterte dann aufs Podium. „Markus!“
Dr. Richter erhob sich verwirrt, und im nächsten Moment warf sich das Mädchen ihm an den Hals. Aufgeregtes Geraune im Saal. Richter entfernte die Hände des Mädchens vorsichtig von seinem Nacken und fragte: „Wer sind Sie denn, bitte?“ Sie brach in Tränen aus. „Wer ist das?“, rief sofort einer aus dem Publikum, aber er wurde niedergezischt – nicht, dass man noch etwas verpasste! „Markus! Du verleugnest mich?“
Eigenartige Wortwahl für ein so junges Ding, fand Peter insgeheim und passte weiter gespannt auf. „Du hast doch gesagt, du liebst mich!“
„D-das muss eine Verwechslung sein, Frau – äh. Ich habe Sie doch noch nie gesehen!“ Das hatte einen neuen Tränenstrom zur Folge. „Und jetzt, wo ich dich so dringend brauche, lässt du mich einfach im Stich! Markus, du bist wirklich ein Schuft!“
Peter schrieb das alles mit und wunderte sich immer mehr. Schuft ? Eine Achtzehnjährige – so sah das Mädchen wenigstens aus – hätte doch Schwein gesagt, Drecksack, total gemein, die letzte Ratte – es gäbe jede Menge passende Schimpfwörter, aber Schuft ? Wie aus einem altmodischen Roman! Sie weinte jetzt still vor sich hin, von Dr. Richter nachdrücklich auf einen Stuhl gesetzt. „Meine Damen und Herren“, rief er, ganz verstört dreinblickend, „bitte glauben Sie mir – ich kenne die junge Dame wirklich nicht. Sicher handelt es sich um eine Verwechslung, Richter ist ja kein so seltener Name...“ Seine Stimme erstarb, das Argument war ja auch ziemlich bescheuert, fand Peter. Trotzdem war das Ganze ein bisschen seltsam.
„Wie heißt denn die junge Dame?“, rief er nach vorne und erhob sich von seinem Stuhl. „Lachner, MorgenExpress .“
„Ach ja, Herr Lachner. Ich weiß es auch nicht.“ Er beugte sich zu der schluchzenden Gestalt herunter, erhielt aber keine Antwort; nur ein Aufjaulen und pathetisch vors Gesicht geschlagene Hände waren die Reaktion.
„Kriegt sie ein Kind?“, rief jemand anderes, der es nicht für nötig zu halten schien, Namen und Zeitung zu nennen, wie es hier eigentlich üblich war.
Das Mädchen ließ die Hände sinken, jaulte „Ja!“, und schluchzte weiter.
Schmieder und Loos wirkten fast genauso verstört wie Richter – obwohl doch Schmieder seinen Nutzen daraus ziehen konnte. Hatte er das noch nicht kapiert? Peter hatte gute Lust, noch mal aufzustehen und das Mädchen zu fragen, wer ihm den antiquierten Text aufgeschrieben hatte, aber dazu brauchte er wohl bessere Beweise als bloß sein unbestimmtes Gefühl, dass hier etwas faul sein konnte. Um das Gleichgewicht wieder herzustellen, erhob er sich nun doch und fragte Schmieder, ob er jemals von der Stasi belästigt worden sei. Schmieder sah wie vom Donner gerührt drein, und im Publikum wurde es wieder still, so dass das leise und arg gleichmäßige Schluchzen des Mädchens im ganzen Raum zu hören war.
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