Valentin seufzte und nahm einen Schluck von seinem supergesunden und mit allerlei obskuren Zaubermitteln angereicherten Mineralwasser. Dann sah er sich etwas erschrocken um. War das Trinken in der Öffentlichkeit nicht verboten? Oder galt das nur für Alkohol? Für die Flaschen, die in braunen Papiertüten getarnt wurden?
Niemand hatte ihn gesehen, gut so. Er schraubte die Flasche fest zu und versteckte sie in seinem Rucksack. In Russland würde er sich weniger verschreckt fühlen, überlegte er und kam sich ziemlich dämlich vor.
Wenn er natürlich durch irgendein dummes Versehen in einem russischen Gefängnis landete, würde die deutsche Botschaft Druck machen und wahrscheinlich auch Erfolg haben. Die amerikanische Rechtsprechung nahm Proteste aus dem Ausland nicht zur Kenntnis, das wusste er aus diversen Spiegel-Artikeln. Ob das so überhaupt stimmte? Waren sein Ängste berechtigt oder die reine Paranoia?
Hatte Jutta vor irgendetwas Angst gehabt? Gesagt hatte sie es nie, aber sie hatte überhaupt wenig gesagt. Mal hatte sie sich ihm vorbehaltlos in die Arme geworfen, mal sich kommentarlos eingeigelt. Anfangs hatte er geglaubt, er habe etwas falsch gemacht, aber sie hatte abgewunken: „Ich bin nun mal so, damit musst du dich abfinden. Ich bin einfach gerne alleine.“
Ja, aber sie wirkte nicht, als mache sie das Alleinsein glücklich. Wenn sie von ihren Fahrten oder den Tagen, die sie alleine in ihrer Wohnung verbracht hatte, zu ihm zurückkam, wirkte sie gequälter als vorher.
Von Verena und Irene hatte er wenig erzählt; er hatte auch nicht das Gefühl gehabt, sie interessiere sich für ihre Vorgängerinnen. Im Gegenzug verriet sie auch nichts über die früheren Männer in ihrem Leben, die es doch gegeben haben musste – als sie sich kennen lernten, war sie immerhin siebenundzwanzig und hatte schon in fast allen Großstädten des „Westens“ gelebt, bevor es sie nach Leisenberg verschlagen hatte.
Manchmal hatte sie gesagt, in Leisenberg fühle sie sich sicher, dann wieder gab es wilde Ausbrüche: „Gott, was ist das für ein Kaff hier!“
Sicher wovor? Auch das hatte sie ihm nie verraten.
Diese dauernden Gefühlsschwankungen – das Leben mit Jutta war anstrengend gewesen, keine Frage. Er stockte, als hätte er das laut gesagt, und fand sich pietätlos. Jutta war tot, wie konnte er da sagen, sie sei anstrengend gewesen?
Weil sie es wirklich gewesen war. Nie hatte man gewusst, woran man heute war – himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt... ob sie krank gewesen war? Psychisch? Körperlich war sie ja pumperlgesund gewesen, das hatte die Obduktion ergeben. Valentin schloss gepeinigt die Augen, als er kurz daran dachte, was bei der Obduktion mit ihrem schönen Körper geschehen sein mochte... nein, Schluss, solche Gedanken waren morbide.
Manisch-depressiv? Oder launisch? Oder hatte sie doch irgendein Trauma mit sich herumgeschleppt? Aber warum hatte sie sich von niemandem helfen lassen? Am Ende war er der einzige gewesen, der behauptet hatte, sie hätte sich nie das Leben genommen – alles anderen hatten auf die Frage, ob sie sich bei Jutta Hömig einen Selbstmord vorstellen konnten, nach einigem Zögern mit Ja geantwortet. Das hatte der Kommissar Valentin erzählt, als dieser erbost fragte, warum nicht weiter ermittelt wurde. Auch sonst gab es keine Anzeichen für ein Fremdverschulden; nur die Tatsache, dass Valentin schon zwei Freundinnen durch den Tod verloren hatte, rief einiges Stirnrunzeln hervor.
Schließlich war man zu dem Schluss gekommen, dass Jutta sich in vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit das Leben genommen hatte – Schlaftabletten und Gin – und Valentin durfte sie begraben.
Die Arbeit hatte ihn auch nicht abgelenkt, ein Gedanke, der ihn immer wieder aufbrachte. Dieser blöde Satz Das Leben geht weiter ! Sicher ging es weiter, aber es beschäftigte einen nicht mehr. Er hatte wie ein Automat gehandelt, war täglich zombieähnlich durch seine Firma geschlichen, hatte verhandelt, unterschrieben, entwickelt, beschlossen – nicht geistesabwesend, aber ohne die geringste Freude daran. Irgendwer hatte behauptet, nach einem Jahr werde es leichter, dann habe man alles einmal ohne den geliebten Menschen erlebt, Weihnachten (Valentin schnaubte bei dem Gedanken), Geburtstag, Biergarten im Sommer, die ersten Schneeglöckchen... Das hatte auch nicht gestimmt, er hatte den zweiten Durchlauf fast noch schlimmer gefunden.
Wenn sie wenigstens Kinder gehabt hätten! Kinder mit Juttas roten Locken und ihren blauen oder seinen grauen Augen... aber Jutta hatte keine Kinder gewollt. „Wie denn?“, hatte sie gefragt. „Ich habe wenig Zeit, du hast noch weniger Zeit, sollen sich die armen Würmer selbst großziehen? Außerdem glaube ich nicht, dass ich mich dafür eigne.“
Wäre sie eine gute Mutter gewesen? Wäre er ein guter Vater gewesen? Hatte sie nicht recht gehabt? Wahrscheinlich schon. Er arbeitete zuviel und konnte, wenn er nach Hause kam, schlecht abschalten. Warum sollte eine Frau sich mit den Überresten begnügen und nebenbei ganz alleine den Nachwuchs großziehen? Solche Frauen fanden sich heute nicht mehr so leicht – und wenn, hätte er so ein Hausmütterchen auch nicht gewollt.
Was wollte er dann? Er wusste es nicht. Einfach einen Menschen, mit dem man reden konnte? Wer sollte das sein? Geschäftsfreunde? Haha. Tony und Liz? Das war zu oberflächlich. Sie wussten zwar, dass seine Freundin gestorben war, aber nicht mehr, und ihnen spielte er auch vor, dass er darüber hinweg sei. Er konnte sich die verlegenen Gesichter schon vorstellen, wenn er seine Ängste und Nöte in stockendem Englisch (dafür brauchte man ein anderes Vokabular) vor ihnen ausbreitete.
Mit Jutta hatte er reden können. Nein, auch nicht wirklich, sie verschloss sich zu leicht. Aber sie war ihm doch näher gewesen als alle anderen – weil er wollte, dass sie ihm nahe war. Verdammt, warum hatte sie sich so davon gemacht? Plötzlich packte ihn die Wut auf sie: einfach abzuhauen und ihn mit dem Schmerz sitzen zu lassen! Er spielte mit einem Stückchen Holz herum, drehte und wendete es, kratzte die Salzkruste ab.
Seine Liebe war offenbar nicht genug gewesen. Sie hatte sich nicht helfen lassen wollen, und er hatte ihr auch nicht gegen ihren Willen helfen können. Hatte er also versagt? Was hätte er anders machen können? Seine Gedanken waren so ungeordnet... alleine konnte man diese Frage auch nicht systematisch klären. Konnte man sie überhaupt klären, jetzt, wo Jutta nicht mehr da war? Wenn sie noch da wäre, ginge es auch nicht. Sie würde ja doch nur behaupten, es sei nichts, sie sei einfach nicht der Typ, der anderen etwas vorheule. Und außerdem habe sie noch einen Artikel zu schreiben...
Trotzdem – wenn man mit niemandem darüber sprechen konnte... es gab keinen mehr, der Jutta gut gekannt hatte. Komisch, sie hatte genauso wenige Freunde gehabt wie er. Bei ihr ließ sich das vielleicht noch erklären, das unstete Herumziehen, alle zwei Jahre eine andere Stadt... keine Eltern, keine Geschwister... kein Interesse an Kontakten, wenn man ehrlich war. Sie meldete sich bei ehemaligen Kollegen nur, wenn sie Informationen brauchte.
Was hatte sie eigentlich in ihm gesehen? Die menschliche Nähe, die doch jeder ab und an brauchte, hatte sie offenbar nicht gesucht. Was denn? Bloß den Sex? Im Bett war sie wild gewesen, beinahe unersättlich. Kühn und immer bereit, etwas Neues auszuprobieren. Aber... Was aber? Plötzlich hatte Valentin das Gefühl, dass trotz der Gier und Leidenschaft etwas gefehlt hatte. Tiefe vielleicht... Ach, wozu darüber nachdenken? Jutta war tot.
Er stand auf, entsandete sich flüchtig und kletterte zur Straße hinauf, stieg in seinen Wagen und fuhr in sein Appartement, in dem es heiß und stickig war. Wie konnte die Luft im November so dumpf sein?
So dumpf wie seine Gedanken. Dass es keinen Zweck hatte, über Jutta nachzudenken, hieß schließlich noch lange nicht, dass diese Gedanken sich nicht immer wieder von selbst einstellten. Und nachts war es am schlimmsten. Nachts kamen die Gedanken besonders ungehindert – und nachts kam auch das Begehren. Er wusste gar nicht mehr, ob es Sehnsucht nach Jutta war, nach ihrem Körper und ihrem Duft, ihren Zärtlichkeiten und ihren geflüsterten Worten – oder die Sehnsucht nach einer Frau ganz allgemein, nach der Weichheit und dem Duft eines Frauenkörpers, nach Küssen, nach dem Moment des Eindringens, nach der Erlösung...
Читать дальше