Der Angreifer zischte mir ins Ohr: „Irgendwann ist es der Falsche, und dann bist du tot. Was habe ich dir eigentlich beigebracht?“
Er ließ von mir ab und ich richtete mich auf.
„Merion!“, rief ich. „Du musst dir diese heimtückischen Überfälle abgewöhnen. Bist du nicht inzwischen zu alt dafür?“
„Leise!“, mahnte er. „Und merke es dir: Ich werde dich so lange hinterrücks anfallen, bis du lernst, auf deine Umgebung zu achten. Komm mit.“
Er betrat den kleinen Tempel, dessen Inneres mich so abgelenkt hatte, und öffnete die Tür in der Hinterwand. Ich folgte ihm in den Raum dahinter, der bequem eingerichtet war. Es gab einen Stuhl, einen Tisch und eine schmale Liege. Hier konnte ein Priester sicherlich angenehm den Tag verbringen. Interessant war, dass in der Wand Ritze waren, durch die man in den vorderen Bereich des Tempels sehen konnte. Sie waren unregelmäßig geformt und gehörten vermutlich zu dem Kunstwerk, das in den Marmor hineingearbeitet worden war. So war es einem Priester möglich, jeden unbemerkt zu beobachten, der vorne seine Andacht verrichtete.
„Was machst du hier in Pregge?“, fragte ich Merion, aber im selben Moment wusste ich die Antwort. Als Anführer der Diebesgilde in Dongarth war er mit verantwortlich dafür, dass wertvolle Kunstgegenstände und Artefakte gestohlen wurden, um sie außer Landes zu bringen oder durch Kopien zu ersetzen. Da Arostak gesagt hatte, hier in der Stadt ende jetzt die Straße der Diebe, musste Merion auch hier nach dem Rechten sehen. „Ich verstehe“, sagte ich deshalb, noch bevor er antworten konnte.
Er nickte. „Den Verlauf der Straße der Diebe haben wir mehrfach geändert. Inzwischen nehmen wir weite Umwege in Kauf, die uns bis zu vier Wochen kosten, um wertvolle Gegenstände zu transportieren. Das macht Pregge für uns zu einer der wichtigsten Städte in den Ringlanden.“
„Arostak sagte, hier werden die Kisten gepackt für den Weitertransport.“
„Richtig. Und zwar unter seiner strengen Aufsicht. Die Priester sind in dieser Provinz fast allmächtig. Hat man ihre Unterstützung, kann man alles tun.“
„Ist man ihr Gegner, stirbt man.“
„So ist es. Aber wie immer, wenn man einen mächtigen Partner hat, besteht die Gefahr, dass er eigene Ziele verfolgt.“
Ich zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Du hältst die Priester für Verräter?“
„Nein. Aber sie haben möglicherweise eigene Pläne, zum Beispiel das Missionieren außerhalb des Ringgebirges. Ich bin hier, um herauszufinden, was Arostak vorhat. Seine Hilfe ist unersetzlich und alles, was hier in Pregge geschieht, läuft fehlerfrei und zuverlässig ab. Es gibt keinen Grund, ihm zu misstrauen.“
„Aber?“, hakte ich nach.
Merion grinste. „Du kennst mich. Wenn alles glatt geht, werde ich nervös. Es ist gut, dass du hier bist. Die Aufmerksamkeit wird sich auf dich konzentrieren. Besuche den Fürsten, sieh dir die Stadt an, rede mit den Menschen, die bereit sind, heimlich auszuwandern.“
„Du meinst, unter denen können Verräter sein?“
„Selbstverständlich. Es würde mich wundern, wenn nicht. Deshalb erfahren diese Leute so wenig wie möglich über die Einzelheiten ihrer Umsiedlung. Sowohl was das Ziel betrifft, als auch über den Weg dorthin erzählt man ihnen halbwahre Geschichten. Sollte einer das an die Kurrether weitergeben, ist der Schaden nicht so groß.“
„Das heißt, im Gegensatz zu dem, was Arostak gesagt hat, soll ich mich auffällig verhalten und so mögliche Spitzel ablenken.“
„Genau das. Da du dich im Gasthaus mit deinem echten Namen eingetragen hast, wäre es unsinnig, jetzt noch zu behaupten, du wärst ein anderer. Wir müssen dir nur eine glaubwürdige Geschichte verpassen.“
„Zum Beispiel?“
„Du wurdest von Fürst Borran nach Kirringa geschickt, um Nachforschungen über Artefakte anzustellen. Magische Artefakte für seine Sammlung. Es lebt hier ein Volksstamm, dessen Angehörige besonders klein und kräftig gebaut sind. Sie arbeiten als Bergleute im Süden, wo sie Erz und Kristalle aus den Steilwänden des Ringgebirges schürfen. Man trifft sie auch hier in der Stadt an. Es gibt Gerüchte, dass sie manchmal auf Artefakte stoßen. Die sollen in uralten Stollen zu finden sein, die angeblich von Zwergen ins Felsgestein geschlagen wurden. So hast du einen Grund, dich umzuhören. Außerdem wird sich niemand wundern, wenn du ein paar Tage zu Pferd Richtung Süden unterwegs bist, um in den Dörfern dieser Leute Nachforschungen anzustellen.“
„Gute Idee. Allerdings, sobald man mir so ein Artefakt zum Kauf anbietet, muss ich passen. So gut gefüllt ist meine Reisekasse nicht.“
„Wozu auch? Du handelst ein Vorkaufsrecht aus und bezahlst dafür eine kleine Summe. Wenn du wieder in Dongarth bist, wirst du Borran informieren und er entscheidet, ob er kauft oder nicht.“
„Gut ausgedacht“, gab ich zu. „Weitere Hinweise für mich?“
Er schüttelte den Kopf und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Mit der anderen Hand deutete er auf die schmalen Ritze. Ich sah hindurch und erkannte einen jungen Mann, der auf den Tempel zukam. Bevor er ihn betrat, blickte er sich um, als wolle er sichergehen, alleine zu sein. Dann setzte er sich auf die Rundbank und starrte eine ganze Weile mit abwesendem Blick die Bilder an, die in die Marmorwand geritzt waren. Ich war mir sicher, dass er mich und Merion nicht bemerkte, obwohl wir ihm direkt ins Gesicht sahen.
Schließlich begann er, halblaut zu beten. Nach einigen rituellen Floskeln kam er zu dem eigentlichen Anliegen, das er Zelchen, dem Gott der Kunst und der Trunksucht, vortragen wollte. Es ging um die Frage, ob er seine Heimat verlassen sollte, um ins Unbekannte zu ziehen.
Merion tippte sich mit dem Finger an die Stirn und ich verstand nicht, warum. Aber er sagte nichts, also lauschte ich weiter.
Der Mann war Bildhauer, stellte sich in seinem Selbstgespräch heraus - oder besser, in den Bitten an die Gottheit -, er hatte hier in Pregge keinen Erfolg, aber wegen seines Talents hielt er das für ungerecht. Er hoffte auf Ruhm und Anerkennung in der neuen Heimat, wo auch immer die sein mochte. Deshalb bat er Zelchen, ihm ein Zeichen zu geben, ob er wirklich den gefahrvollen Weg ins Unbekannt auf sich nehmen sollte. Im Namen der Kunst und um der Menschheit die Werke zu schenken, die zu vollbringen er sich befähigt fühlte.
„Soll ich es wagen, oh Zelchen, größter aller Künstler, soll ich es wagen?“, rief der junge Mann und rang theatralisch mit den Händen.
Zu meiner Überraschung hielt Merion seinen Mund direkt an eine der Sehritzen und sagte mit verstellter, tiefer Stimme langgezogen: „Neeeeiiin!“
Der Bildhauer sprang auf, stolperte ein paar Schritte zurück und drückte sich vor Schreck die Hand aufs Herz. Nach einige hastigen Atemzügen fasste er sich und sagte: „Danke, oh Zelchen! Dass du zu mir sprichst, beweist mir, dass ich wirklich ein Künstler bin. Ich werde meine ganze Kraft darauf verwenden, in Pregge Werke zu erschaffen, die deiner würdig sind. Gleich als Erstes entwerfe ich eine Büste von dir und überreiche sie dem Tempel als Geschenk, zum Dank für deine Gnade.“
Er ging davon, und er machte auf mich durchaus den Eindruck, als sei er erleichtert über die ‚göttliche‘ Entscheidung.
„Die Priester nutzen diese kleinen Tempel gerne, um im Namen der Götter Urteile zu verkünden“, sagte Merion grinsend, nachdem der Mann weg war. „Jeder Gläubige sieht, dass in der Hinterwand eine Tür ist, und trotzdem glauben die meisten, die Stimme eines Gottes zu hören, wenn man zu ihnen spricht. Wobei die Priester zusätzlich einiges Brimborium machen, um ernstgenommen zu werden. Weihrauch, dessen Duft durch die schmalen Ritzen nach draußen dringt, zum Beispiel, oder abends Leuchterscheinungen.“
Ich lachte, bevor ich fragte: „Warum hast du ihm mit Nein geantwortet? Man wird auch Künstler brauchen in unserer neuen Heimat.“
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