Der Priester wartete in einer offenen Tür. Zum ersten Mal ging er ausführlicher auf etwas ein, das mich interessierte, nämlich diese Frau. „Esra, meine jüngste Tochter“, sagte er unaufgefordert. „Ich habe acht Töchter und jede zweite von ihnen dient dem Tempel, die übrigen heiraten. So habe ich es festgelegt, so wird es gehandhabt.“
„Haben Ihre Frau und ihre Töchter nichts gegen diese Regelung?“
Er warf mir einen Blick zu, als zweifle er an meinem Verstand, dann ging er weiter.
Wir kamen in ein Büro, das einfach möbliert war mit einem Schreibtisch, einigen Stühlen und einem Regal mit Büchern. Nichts hier erinnerte daran, dass wir uns in einem Tempel befanden. Ein Fenster spendete Licht, aber es war knapp unterhalb der Decke, also zu hoch, um hindurchzusehen. Es wäre sicherlich ein entspannender Ausblick gewesen, hinaus in den Park.
Ich setzte mich und einen Moment später erschien Arostaks Tochter mit einem Tablett, auf dem ein Teller, ein Glas und ein Krug standen. Sie stellte alles vor mich hin, legte Besteck dazu und ging wieder, ohne ein Wort zu sprechen. Enttäuscht betrachtete ich, was sie mir gebracht hatte. In dem Krug war Wasser und auf dem Teller lagen eine Scheibe Brot, verschiedene Wurzelgemüse und einige Apfelschnitze. Ein Frühstück stellte ich mir anders vor.
„Nur wer gesund isst, kann lange den Göttern und den Menschen dienen“, behauptete Arostak.
„Wie alt sind Sie?“
„Zweiundachtzig. Mit sechsunddreißig hat mich im Ödland von Arbaran ein Pferd abgeworfen und man ließ mich für tot liegen. Aber ich habe überlebt, mitten in der Wildnis. Ich habe mich mit gebrochenen Beinen, auf dem Boden windend wie ein Wurm, fortbewegt bis zum Lagerplatz eines Schäfers. Man hielt mein Überleben für das Zeichen einer besonderen Gunst der Götter. Seitdem nennt man mich den heiligen Arostak. Aber das ist nur Gerede der einfachen Leute, selbstverständlich bin ich kein Heiliger. Wäre ich jedoch damals ein verweichlichter Fettsack gewesen, säße ich heute nicht hier. Also essen Sie, was meine Tochter Ihnen gebracht hat!“
Ich gehorchte und biss in ein Apfelstück.
„Folgendes ist wichtig“, begann er. „Pregge ist nun der Endpunkt der Straße der Diebe. Hier werden die Gegenstände, die man aus den anderen Regionen der Ringlande bringt, ordentlich verpackt und vorbereitet für den Weitertransport nach Kroyia. Außerdem beginnt hier die Reise der Auswanderwilligen aus den südlichen Provinzen. Wir statten sie mit allem Notwendigen aus, nicht zuletzt mit guten Pferden, für die Kirringa bekannt ist. Beides ist so wichtig, dass Pregge niemals von den Kurrethern infiltriert werden darf. Wir gehen hart gegen jeden vor, den wir für einen Verräter halten.“
„Gibt es hier keine Kurrether in der öffentlichen Verwaltung und in den Gilden?“
„Selbstverständlich gibt es die. Es würde sie misstrauisch machen, wenn wir das unterbinden. Aber wir haben ein ausgeklügeltes System entwickelt, das sie beschäftigt hält, und doch alles Wichtige um sie herum leitet.“
„Wer organisiert das?“, fragte ich undeutlich, während ich an einer rohen Karotte kaute.
„Was die Transporte und die Auswanderer betrifft: der Fürst und seine engsten Mitarbeiter. Wenn es um die Abwehr von Feinden und Spionen geht: die Priesterschaft dieses Tempels.“
Das erstaunte mich. „Wie denn das? Mit Gebeten oder mit dem Schwert?“
„Machen Sie sich nicht lächerlich. Selbstverständlich beten wir um die Unterstützung von Hibbuentos. Er ist ein wehrhafter Gott und verabscheut Verrat. Aber wenn es darum geht, Gegner auszuschalten, nutzen wir die bekannten Methoden, die ich Ihnen jetzt nicht aufzählen will.“
„Sind sie wirksam?“
„Wir haben außerhalb der Stadt einen eigenen Friedhof für diejenigen, die sich gegen uns zu stellen versuchten.“
„Das ist beruhigend“, behauptete ich. Mit großen Schlucken trank ich das Glas leer, um die kärgliche Mahlzeit hinunterzuspülen.
„Das sollte es auch sein, gerade für Sie. Denn Sie werden verfolgt und man trachtet Ihnen nach dem Leben. In Pregge sind Sie sicher. Falls Sie die Stadt verlassen wollen, so informieren Sie mich unbedingt rechtzeitig, damit ich einen Schutz organisieren kann.“
„Danke für das Angebot. Was gibt es noch an Wichtigem?“
„Falls Sie länger hierbleiben, suchen Sie sich eine Wohnung. Sollte Ihnen das nötige Geld fehlen, lege ich es aus. Denken Sie darüber nach, mit welcher Arbeit Sie sich nützlich machen können, und verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt selbst. In zwei Jahren wird man Sie in Dongarth vergessen haben. Dann werden wir überlegen, ob Sie dorthin zurückkehren oder ob man sie anderswo sinnvoll einsetzen kann, zum Beispiel in Kroyia. Und vor allem: Halten Sie den Mund, reden Sie nicht mit Fremden, seien Sie nicht zu vertrauensselig.“
Ich dachte, ich hätte mich verhört. „Wie bitte?“, fragte ich nach.
„Sie sollen Fremden nicht vertrauen“, wiederholte er.
„Das meine ich nicht. Sie sagten, ich solle zwei Jahre hier in Pregge verbringen! Mich verstecken und mir eine Arbeit suchen, als sei ich ...“
„Als seien Sie ein braver Bürger, der seinem gottgefälligen Tagwerk nachgeht, genau das. Glauben Sie, wir werden Sie für Aufgaben einsetzen, die mit unserer Sache zu tun haben? Keinesfalls! Jeder, der Sie erkennt, wird dann eine Spur haben, die zu unseren Aktivitäten führt. Übrigens, beschaffen Sie sich Ersatz für diesen Kaiserdegen. Landesübliche Kleidung, eine neue Waffe und ein etwas veränderter Akzent werden Sie zu einem anderen Menschen machen.“
„Keinesfalls!“, sagte ich.
„Ich kann Sie nicht zwingen. Aber Sie sollten mit unserem Fürsten darüber reden.“ Arostak sah hinüber zum Bücherregal. „Er erwartet Sie in vierzig Minuten. Machen Sie sich auf den Weg.“
Ich folgte seinem Blick und sah eine Uhr dort stehen, die nur eine halbe Handspanne hoch und breit war. Sicherlich das Meisterstück eines der hiesigen Handwerker, denn eine so kleine Uhr hatte ich noch nirgendwo gesehen. Das erinnerte mich an etwas: „Ich habe vor einigen Monaten einen Mann aus Ostraia kennengelernt, der behauptete, dort baue man Uhren, die kompakter und besser sind, als alles, was wir in den Ringlanden kennen. Und trotzdem billiger.“
„Ein Gerücht“, sagte er abfällig. „Einer unserer besten Feinwerker wird sich bald auf den Weg dorthin machen. Sollte es diese Wunderwerke tatsächlich geben, so wird er ihre Herstellung erlernen und dieses Wissen in der neuen Heimat unseres Volkes anwenden. Und jetzt gehen Sie.“
Das tat ich. Ich durchquerte den Vorraum und lächelte der Tochter des Priesters zu, die jedoch nicht darauf reagierte. Der Saal mit den Statuen war immer noch menschenleer, ebenso wie der eigentliche Tempel mit dem Gott Hibbuentos, der Vorplatz mit den Pferden und die Parklandschaft draußen. Nun ja, dachte ich, vielleicht sind alle Priester unterwegs, um Spione und Verräter zu jagen.
Da ich noch genügend Zeit hatte, ging ich zu einem der kleinen Marmorbauwerke und sah hinein. Es unterschied sich von den anderen, denn im Mittelpunkt stand keine Statue, sondern eine Rundbank - natürlich aus weißem Marmor. Erst, als ich eintrat, sah ich den Gegenstand der Anbetung: Eingeritzte Zeichnungen bedeckten die Rückwand, in der die Tür zum hinteren Teil war. Dargestellt waren die Gestalt des Gottes Zelchen und die Wundertaten, die man ihm zuschrieb. Dieses Kunstwerk war so fein ausgeführt, dass man nur durch die Wirkung von Licht und Schatten die Bilder wahrnehmen konnte.
Beeindruckt wandte ich mich um - und stürzte zu Boden, weil mich jemand mit einem gekonnten Griff zu Fall brachte, mir dann mit der einen Hand den Mund zuhielt und mit der anderen einen Dolch an die Kehle.
7 Fürst Kirringa
Mein Ärger über meine eigene Dummheit war so stark, dass ich mich im ersten Moment gar nicht zu wehren versuchte. Was auch gut war.
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