Ich erschrak so vor diese Menschenmenge, dass ich für einen Moment überlegte, ob ich abwarten sollte, bis sie weg waren. Die Einsamkeit hatte mich verändert. Aber dann gab ich meinem Pferd die Sporen und galoppierte auf sie zu.
6 Pregge
Der Azondan war ein breiter, träger Strom, der sich nach Westen auf das Haland-Meer zubewegte. Er ähnelte dem Unterlauf des Donnan: Ich hatte den Eindruck, am Ufer eines Sees zu stehen. Die gegenüberliegende Seite war so fern, dass sie genauso gut nur eine Insel sein konnte. Wasservögel kreisten im leichten Wind über dem Flusslauf. Ihre große Zahl bewies, dass das Gewässer fischreich war.
Die Fähre, für deren Nutzung ich immerhin zwei Heller bezahlen musste, war ein flaches Gebilde mit einem kleinen Führerhaus in der Mitte. Sie bewegte sich entlang eines Bündels aus armdicken Seilen, die über der Wasseroberfläche von Ufer zu Ufer gespannt waren. Den Antrieb lieferte die Strömung, die gegen schräg zum Wasser stehende Finnen unter dem Rumpf drückte. So erklärten es mir andere Passagiere in dem breiten Dialekt, den man hier sprach. Alles klang hart, war aber mit vielen Zischlauten durchsetzt, die mir das Verstehen erschwerten. Dass man den Namen der Stadt Pregge als Preksch aussprach, war ein gutes Beispiel dafür.
Die Fähre fuhr zwei Mal täglich hin und her. Lag sie vertäut im Hafen, hob man das Seilbündel mit Hilfe gewaltiger Maste an, damit Schiffe darunter hindurch konnten.
Die Überfahrt dauerte eine Stunde. In dieser Zeit unterhielt ich mich mit den anderen Reisenden. Es waren Bauern und Händler, die am Nordufer lebten, wo ein schmaler fruchtbarer Streifen Land verlief, der dann in das Ödland überging. Manche brachten an diesem Tag ihre Erzeugnisse in die Hauptstadt der Provinz, andere hatten private Angelegenheiten dort zu regeln.
Es war früher Nachmittag, trotzdem sprachen die Leute von der Abendfähre, im Gegensatz zu der am Morgen. Sobald die Dämmerung einsetzte, musste das Seil hochgezogen werden, weil das eine gute Zeit für die Fischerboote war.
Während wir uns dem gegenüberliegenden Ufer näherten, strengte ich mich an, die Stadt Pregge zu erkennen. Aber ich sah nur eine Hafenanlage mit Lagerhäusern und dahinter eine lockere Anordnung von einzelnen Häusern, zwischen denen viel Platz war. Daher vermutete ich, die Hauptstadt von Kirringa liege weiter im Hinterland und ich könne deshalb die Stadtmauer noch nicht sehen.
Die Passagiere, die ich danach fragte, lachten mich aus. Pregge hatte keine Mauern. Es nahm den größten Teil einer weitflächigen, nicht besonders dicht bebauten Ebene ein, die sich über mehrere Meilen erstreckte. Wie groß Pregge genau war, vermochte niemand zu sagen, schon weil das eine oder andere Dorf außerhalb sich einfach als zur Stadt gehörig betrachtete. Das brachte Vorteile bei der Besteuerung mit sich.
Das Ziel der Fähre war ein aus Holzbohlen gebauter Kai, wo ich die Masten sah, an denen das Seil befestigt war. Masten war nicht der richtige Begriff dafür, weil es sich um Gerüste aus mehreren mächtigen Holzstämmen handelte, die auf dreifache Manneslänge hochgeschwenkt werden konnten. Man hatte bereits Ochsen eingeschirrt, die für diese Arbeit vorgesehen waren. Kaum legte die Fähre an, lösten zwei Matrosen die Rollen von dem Seil und die Ochsen zogen an.
Am gegenüberliegenden Ufer musste es eine vergleichbare Anlage geben, auf die ich jedoch nicht geachtet hatte, als ich im Galopp zur Fähre geritten war.
Das Kai war von einem Bretterzaun umgeben, man konnte von ihm aus nur durch gatterähnliche Tore in die Stadt gelangen. Vor denen standen Wachmänner, die jeden Reisenden mit gelangweilten Blicken musterten. Auch mich und meine Pferde sahen sie kurz an. Man musste mir den weiten Weg anmerken, den ich zurückgelegt hatte. Aber die Wachen gaben durch nichts zu erkennen, dass ihnen etwas Ungewöhnliches auffiel. Ich ging durch das Gatter und folgte einer Straße in die Stadt hinein.
Wie nicht anders zu erwarten, standen am linken und rechten Straßenrand Tavernen. Sie gehörten zu jedem Hafen. Auch hier am Azondan suchten Matrosen und Reisende am Abend Unterhaltung. Die meisten Tavernen machten schon auf den ersten Blick einen billigen Eindruck. Vermutlich boten sie außer Bier und einfachem Essen nur Schlafsäle für die Landbevölkerung an, für Leute wie sie mit mir auf der Fähre gewesen war.
Erst, als ich ein paar Hundert Schritte weiter war, sah ich Gaststätten mit ansprechenden Fassaden und geputzten Fenstern. Ich ging aufs Geratewohl zu einer hin, die einen Anbau mit einem Stall hatte, was bei den meisten nicht der Fall war.
Ich band die Pferde an Posten an, die zu diesem Zweck vor dem Eingang der Gaststätte standen, und nahm die Satteltasche mit meinen wertvollsten Dingen ab. Dann ging ich hinein. Der Wirt war freundlich und nannte einen Preis für eine Person und zwei Pferde, der etwa dem entsprach, was man in Dongarth in der Umgebung des Marktplatzes forderte. Ich akzeptierte und man brachte mich in ein gut ausgestattetes Zimmer im zweiten Stock.
Den Abend nutzte ich, um die Spuren des langen Ritts mit Hilfe von Wasser, Seife und einer kräftigen Bürste loszuwerden. Die schmutzige Kleidung gab ich zum Waschen und Flicken, nachdem ich Ersatz angezogen hatte, der im Gepäck des zweiten Pferdes gewesen war. Dann legte ich mich schlafen.
Als ich am folgenden Morgen herunterkam, wartete der Wirt am Absatz der Treppe auf mich.
„Sie werden im Speisesaal erwartet, Herr von Reichenstein“, sagte er mit einer Verbeugung, die tiefer war, als die am Abend zuvor.
Da ich mich nur mit dem Namen „Reichenstein“ in sein Gästebuch eingetragen hatte, musste ihm jemand meine Identität verraten haben. Ich zögerte, denn ich hatte den Degen nicht umgeschnallt, weil ich nur Frühstücken wollte.
Der Wirt bemerkte es und fügte hinzu: „Der Priester des hiesigen Tempels, der heilige Arostak, erwartet Sie.“
Ich stutzte. „Wird hier in Pregge der heilige Arostak verehrt oder ist der Priester heilig?“
„Der Priester!“, sagte er mit Nachdruck.
Neugierig ging ich in den Speiseraum.
Arostak war nicht zu übersehen. Er saß an einem langen, leeren Tisch, und zwar auf dem mittleren Stuhl an der Längsseite, so dass links und rechts von ihm je vier Plätze unbesetzt waren. Deshalb wirkte er wie ein Richter, der auf einen Angeklagten wartete. Er war ein alter Mann, dessen ansonsten kahlen Schädel ein schmaler Haarkranz zierte. Das Gesicht war scharf geschnitten und von Falten durchzogen, die sein Alter umso deutlicher zeigten, weil er im Gegensatz zu den meisten Priestern keinen Bart trug. Bekleidet war er mit einem weißen Gewand, in das zwei blaue Bänder eingewirkt waren, die von oben nach unten über die Schultern verliefen und Ableger hatten, die den Kragen bildeten. Auch das war ungewöhnlich, denn wenn Leute wie er Verzierungen trugen, waren die meist aus Gold.
An anderen Tischen saßen Gäste beim Frühstück. Außer dem Klappern von Besteck und gelegentlichem Schmatzen war nichts zu hören - niemand sprach ein Wort. Man sah mich und den Priester abwechselnd an, senkte aber rasch wieder den Blick. Ich blieb eine Weile in der Tür stehen und ließ den Eindruck auf mich wirken, bevor ich weiterging.
„Sie sind Arostak und möchten mit mir sprechen?“, fragte ich.
Er sah mich mit einem starren Blick an und sagte: „Sie sind einige Tage später eingetroffen, als ich erwartet hatte. Gab es Probleme auf dem Weg, die Sie aufgehalten haben?“
„Keine“, antwortete ich ohne weitere Erklärung. Ich empfand sein Verhalten als unhöflich, folglich benahm ich mich ebenso. Ich setzte mich auf den Stuhl ihm gegenüber, ohne auf seine Einladung oder auch nur eine Geste von ihm zu warten. Ich hatte nun zwar die Tür im Rücken, was mir immer unangenehm war. Aber ich verließ mich darauf, dass alle Priester in den Ringlanden auf der Seite des Hohepriesters Echterion standen und folglich mir nicht feindlich gesinnt waren. Drohte eine Gefahr, zum Beispiel durch einen neuen Gast, so würde der Alte mich warnen.
Читать дальше