Wir folgten einem breiten, unbefestigten Weg, der genau nach Westen führte. Die Luft war warm und feucht, sie erinnerte mich an den Dschungel. Zunächst sah ich links und rechts von uns Felder, die aber keinen guten Eindruck machten. Sie waren klein und Unkraut wuchs zwischen den Halmen des Getreides, das man hier anzubauen versuchte.
„Die Menschen in Tirgaj leben zum Teil von dem, was die Eingeborenen sammeln und in der Stadt auf dem Markt verkaufen“, erklärte Gendra. „Aber das meiste bringen die Küstensegler aus Marlik mit. Die haben sonst keine Fracht, und die Kosten trägt die Stadtverwaltung von Marlik.“
„Also zahlen die Ostraianer“, sagte ich. Denn die große Hafenstadt im Norden wurde wegen ihrer strategischen Bedeutung vollständig von Ostraia finanziert.
„Ja, und es sind geringe Kosten, verglichen mit dem Wert des Erzes.“
„Was erwartet uns weiter im Inland?“
„Eine wellige Landschaft. Damit meine ich, es gibt keine hohen Hügel oder gar Berge, aber Erhebungen, ohne die alles hier flach wäre wie ein Holzbrett.“
„Und ebenso unfruchtbar?“
„Im Gegenteil. Es gibt Palmbäume, Sträucher mit Früchten, essbare Wurzeln und jagdbares Kleingetier. Die Menschen, die hier leben, brauchen sich keine Sorgen zu machen wegen des täglichen Essens.“
„Wie im Hairam. Und trotzdem lebt dort kaum jemand, die Eingeborenendörfer liegen weit auseinander. Ist das hier auch so?“
„Ja, das ist eine Fortsetzung dieser Landschaft, die aber südlich in Dschungel übergeht und nordwestlich von hier in die Wüste. In deren Grenzbereich führt der Weg entlang, dem wir folgen. Wenn nichts dazwischen kommt, sehen wir morgen Abend rechts von uns die ersten Dünen am Horizont, und auf der anderen Seite eine dunkle Wand, die der Rand des Dschungels ist. Dort wachsen Bäume und Büsche ziemlich abrupt aus der Landschaft empor, als gebe es eine Trennlinie.“
Da die riesige Wüste vor Jahrtausenden um ein magisches Zentrum herum entstanden war, den Danai-See, war das keine Überraschung. Mächte, die so gewaltige Strukturen erschufen - seien es Götter, Magier oder Naturerscheinungen - konnten auch die Umgebung unter ihrer Kontrolle halten. Der Dschungel rückte nicht auf das Gebiet der Wüste vor und die dehnte sich umgekehrt ebenfalls nicht aus.
Wie immer bei Reisen in schwülwarmen Regionen kamen wir nur langsam voran. Mensch und Tier fühlten sich wegen der Hitze und Luftfeuchtigkeit stark belastet. Da wir einen weiten Weg vor uns hatten, wollten wir die Pferde auch nicht übermäßig antreiben. Andererseits verbot es sich laut Gendra, in dieser Gegend nachts unterwegs zu sein. Ganz sicher waren wir eben doch nicht vor wilden Tieren oder einem Hinterhalt durch Menschen.
Solche Zwischenfälle blieben uns erspart, bis wir am dritten Tag in der Ferne eine Hütte sahen.
„Die ist vor einigen Wochen noch nicht hier gewesen“, sagte Gendra. „Reiten wir in einem großen Bogen um sie herum oder sehen wir sie uns an?“
„Ich verlasse mich auf dich. Meine Erfahrungen mit dem Hairam sind zehn Jahre her. Damals fanden wir in so einer einsam stehenden Hütte Aussätzige.“
„Ich habe nichts von einer Krankheitswelle gehört“, entgegnete sie. „Das hätte sich bestimmt in Tirgaj herumgesprochen. Ich entscheide mich dafür, die Hütte zu untersuchen. Das Gelände hier ist frei genug von Strauchwerk, um einen Hinterhalt auszuschließen. Sollten dort gefährliche Menschen sein, sind wir mit unseren Pferden im Vorteil. Wir können schneller fliehen, als sie rennen können. Also, los!“
Wir ritten auf die Hütte zu, ich voraus, Gendra hinter mir. Mir wurde bewusst, dass in unserer Ausrüstung ein wichtiger Gegenstand fehlte: Ein Bogen! Ohne Fernwaffe waren wir im Nachteil, wenn Angreifer welche hatten. Aber da weder ich noch Gendra gut mit Pfeil und Bogen umgehen konnten, wäre es wohl überflüssiger Ballast gewesen.
Die Hütte erwies sich beim Näherkommen als stabil gebaut, und zwar aus Brettern. Das Material dafür musste also aus einer Stadt oder einem Dorf stammen, wo man Holz bearbeiten konnte. Man hatte es mit Eseln oder Pferdekarren hierher transportiert. Das war ein ziemlicher Aufwand. Vor der Hütte sah ich die Reste eines Lagerfeuers mit einem Bratspieß, der auf zwei gegabelten Eisenstäben ruhte. Auch das war ungewöhnlich und sprach dafür, dass der Besitzer der Hütte nicht nur vorübergehend hier lebte.
Als ich auf fünfzig Schritt heran war und überlegte, ob ich laut rufen und den Bewohner über unsere Ankunft informieren sollte, sah ich, was sich hinter ihr befand. Dort standen zwei Pferde. Eines gesattelt und das andere beladen mit Vorratspacken. Sie sahen aus wie unsere, nur der Reiter war nicht dabei.
„Hier stimmt etwas nicht“, sagte ich zu Gendra. „Und den Vorteil der Geschwindigkeit bei der Flucht haben wir auch nicht mehr. Du bleibst hier, ich reite näher heran.“
Sie nickte nur.
Die Hütte verfügte über keine Tür, nur ein Leinentuch verschloss den Eingang. Nichts rührte sich. Ich rief ein paar Mal „Hallo!“, ohne eine Antwort zu erhalten, dann stieg ich ab. Mit der Klinge des Degens schob ich das Tuch beiseite, bereit, sofort zuzustoßen.
Im Inneren standen ein Feldbett, ein Tisch und ein Stuhl. Einige Kleidungsstücke lagen auf dem Bett, auf dem Tisch waren ein leerer Teller, ein Trinkbecher und Essbesteck. Der Bewohner war nicht hier, aber die Einrichtung zeigte, dass er kein Eingeborener war, sondern aus den Städten an der Küste stammen musste. Vielleicht auch aus den Ringlanden. Sicherlich handelte es sich nicht um einen Kurrether, denn es gab keine Anzeichen von protzigem Wohlstand, nichts Goldenes.
Ich stieg wieder auf mein Pferd, als Gendra einen Warnruf ausstieß.
Ein Mann näherte sich uns. Er kam aus Richtung des Dschungels und schwenkte ein Tuch, um uns auf sich aufmerksam zu machen.
Die Gestalt war schwarz und erinnerte mich an jemanden. Wir ritten nicht zu dem Fremden hin, sondern warteten bei der Hütte ab, deren Besitzer er vermutlich war.
Als der Mann nahe genug war, um das Gesicht zu erkennen, wusste ich, mit wem ich es zu tun hatte: mit O’Praise, dem Kartenmacher! Er war nackt bis auf ein Stoffteil, das er um seine Hüfte geschlungen hatte. Seine Kleidung trug er in der Hand.
„Ich habe in dem Bach dort hinten gebadet“, rief er uns zu. „Ihr seid früher eingetroffen, als ich erwartet hatte. Schön, euch zu sehen! Ich bin reisefertig, wir können losreiten!“
O’Praise war älter geworden, wie nicht anders zu erwarten nach einem Jahrzehnt. Weiße Stellen zeigten sich in seinem krausen Haar und er hatte deutlich an Gewicht zugelegt. Trotzdem machte er einen muskulösen Eindruck. Seine gute Laune war wie immer ansteckend, und ich lachte, als er Hemd und Hose mit Schwung in die Hütte warf, um sich dann uns wieder zuzuwenden.
„Wollt ihr frisches Wasser in eure Wassersäcke füllen?“, fragte er. „Reitet in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Dort ist ein breiter Bach, kühl und klar. Westlich von hier versumpft das Gewässer, deshalb macht es Sinn, die Chance zu nutzen.“
Ich stieg ab und musterte ihn. „Was machen Sie hier, weit entfernt von allen Städten und Dörfern, und woher wussten Sie, dass wir kommen würden?“
„Was ich hier mache? Ich habe auf Sie gewartet. Woher ich von euch beiden weiß? Die Ostraianer haben ein Auge auf euch. Selbst in Tirgaj gibt es Informanten. Zum Beispiel ein paar alte Männer, die in der einzigen Taverne Karten spielen. Und um die ungestellte Frage auch gleich zu beantworten: Ja, ich will euch bis zum Perk-Gebirge begleiten. Die Pässe dort müssen erfasst werden, ebenso wie die genaue Lage der Erzminen am Ostrand. Ich reise gerne alleine, aber über lange Distanzen bewährt es sich doch, erfahrene Reisebegleiter mit scharfen Waffen bei sich zu wissen.“
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