Den in der Solange-Rechtsprechung entwickelten und in weiteren Entscheidungen fortgeführten Maßstab des im „Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes“ fand im Europarechtsartikel des GG Aufnahme, Art. 23 Abs. 1 S. 1. Für den Rechtsanwender bedeutet dies, dass die Zulässigkeit bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsbehelfe nur bejaht werden kann, wenn anhand einer Gegenüberstellung des grundgesetzlichen Grundrechtsschutzes mit dem auf Gemeinschaftsebenen bestehenden Schutzniveau festgestellt würde, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei. 79Ein solcher Nachweis kann angesichts des erreichten Entwicklungsstandes des europäischen Grundrechtsschutzes kaum gelingen. Die Reservefunktion des BVerfG bleibt damit derzeit theoretischer Natur. 80
179 bb) Kontrolle bei Umsetzung und Vollzug europäischen Sekundärrechts.Wird europäisches Sekundärrecht durch deutsche Gesetze ( Transformationsgesetze ) umgesetzt bzw. europäisches Sekundärrecht vollzogen, ist wiederum zu differenzieren . Insoweit kommt es darauf an, ob das Unionsrecht den Mitgliedstaaten Handlungsspielräume belässt oder nicht.
180Besteht ein solcher Spielraum nicht, weil das Unionsrecht zwingende Vorgaben macht, ist das innerstaatliche Recht grundsätzlich nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, sondern am Unionsrecht und damit auch den durch dieses gewährleisteten Grundrechten zu messen. 81
181Geht demgegenüber das nationale Recht über die Vorgaben des Unionsrechts hinaus – etwa indem das Unionsrecht Härtefallregelungen eröffnet, die dann grundrechtskonform genutzt werden können 82, findet Art. 1 Abs. 3 Anwendung. 83Gegebenenfalls ist die Frage des Bestehens eines Umsetzungsspielraums im Wege der Vorlage an den EuGH nach Art. 267 Abs. 1 AEUV zu klären 84; wird dort das Vorhandensein eines Umsetzungsspielraums bejaht, kann das BVerfG die Überprüfung der Norm auf seine Übereinstimmung mit dem GG prüfen.
182 b) Ultra-Vires-Kontrolle.Das BVerfG hat sich in seiner an die Solange-Rechtsprechung anschließenden Auseinandersetzung mit der Frage des Verhältnisses von Europarecht und nationalem Verfassungsrecht weitere Reserve- bzw. Kontrollfunktionen vorbehalten. Das BVerfG sieht sich in einem Kooperationsverhältnis zum EuGH. Zwar übe es seine
„Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem ‚Kooperationsverhältnis‘ zum Europäischen Gerichtshof aus, in dem der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaften garantiert, das Bundesverfassungsgericht sich deshalb auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards beschränken kann.“ 85
Gleichzeitig aber behalte es sich vor, zu prüfen,
„ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen.“ 86
Man spricht insoweit von einer Ultra-Vires-Kontrolle . Das BVerfG würde aber nur einschreiten, wenn der Kompetenzverstoß hinreichend qualifiziert wäre. 87Das wäre insbesondere dann der Fall, wenn das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich sei und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht falle. 88
183 c) Identitätskontrolle.Die Rechtsprechung des BVerfG zum Verhältnis zum EuGH wurde im Lissabon-Urteil 89, der Honeywell-Entscheidung 90und in der Entscheidung zum europäischen Haftbefehl 91fortentwickelt. Das BVerfG behält sich neben der schon erwähnten Ultra-Vires-Kontrolle auch eine Identitätskontrolle vor, also eine Kontrolle in Bezug auf die Verfassungsidentität der Bundesrepublik gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3. 92Im Beschluss zur verfassungsrechtlichen Prüfungspflicht bei der Auslieferung zur Vollstreckung eines italienischen Abwesenheitsurteils führt der Zweite Senat dazu aus:
„Soweit Maßnahmen eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union Auswirkungen zeitigen, die die durch Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit den in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze geschützte Verfassungsidentität berühren, gehen sie über die grundgesetzlichen Grenzen offener Staatlichkeit hinaus. Auf einer primärrechtlichen Ermächtigung kann eine derartige Maßnahme nicht beruhen, weil auch der mit der Mehrheit des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG entscheidende Integrationsgesetzgeber der Europäischen Union keine Hoheitsrechte übertragen kann, mit deren Inanspruchnahme eine Berührung der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität einherginge. … Auf eine Rechtsfortbildung zunächst verfassungsmäßiger Einzelermächtigungen kann sie ebenfalls nicht gestützt werden, weil das Organ oder die Stelle der Europäischen Union damit ultra vires handelte.“93
Auf Grundlage dieser Identitätskontrolle hat das BVerfG ein in Anwendung europäischen Rechts ergangenes Urteil (eines deutschen Gerichts) wegen Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 aufgehoben und eine Auslieferung untersagt, weil Mindestanforderungen an das Schuldprinzip, welches in Art. 1 Abs. 1 enthalten ist, nicht gewahrt wurden. 94
Zugleich betont das BVerfG – wohl in gewisser Distanzierung zum Lissabon-Urteil – erneut das Kooperationsverhältnis zum EuGH und führt aus:
„Vor der Annahme eines Ultra-Vires-Akts der europäischen Organe und Einrichtungen ist deshalb dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte zu geben. Solange der Gerichtshof keine Gelegenheit hatte, über die aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragen zu entscheiden, darf das BVerfG für Deutschland keine Unanwendbarkeit des Unionsrechts feststellen“.95
184Wie belastbar sich dieses Kooperationsverhältnis künftig erweisen wird, bleibt abzuwarten. Immerhin hat das BVerfG auf der skizzierten Grundlage dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die Ankündigung des Ankaufs von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank gegen deren geld- und währungspolitisches Mandat oder gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung verstößt und damit ein Ultra-vires-Akt vorliegt. 96
§ 7Aufbau der Grundrechtsprüfung bei Verletzung eines Freiheitsrechts
185Der Fallaufbau bei Verletzung eines Freiheitsrechts folgt einer Drei-Stufen-Prüfung . Zunächst ist zu fragen, ob das Verhalten des Betroffenen in den Schutzbereich des Grundrechts fällt. In einem weiteren Schritt ist festzustellen, ob ein staatlicher Eingriff in den Schutzbereich gegeben ist. Wird dies bejaht, so muss untersucht werden, ob dieser Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Ist dies nicht der Fall, liegt ein Verstoß gegen das Grundrecht vor.
Vgl. auch die Prüfungsschemata in Anhang B Rn. 1318; Anhang C Rn. 1322-1324
186Im Rahmen des Schutzbereichs eines Freiheitsrechts ist zwischen dem persönlichen und dem sachlichen Schutzbereich des Grundrechts zu unterscheiden.
1.Persönlicher Schutzbereich
187Der persönliche Schutzbereich betrifft die Frage der Grundrechtsträgerschaft . 1Darunter versteht man die Fähigkeit einer natürlichen oder juristischen Person, Träger von Grundrechten zu sein. 2Grundrechtsträger und damit Grundrechtsberechtigter ist derjenige, dem das Grundrecht zusteht. 3
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