Remmarks Stimme ging in ein wütendes Brüllen über, als er widersprach: »Das ist doch alles Blödsinn! Wie gewohnt schießt unsere Regierung über das Ziel weit hinaus. Auf nationaler Ebene hat sie bis 2005 bereits eine 25-prozentige Minderung an CO²-Emissionen in Deutschland erreicht. Trotz Bergbau oder besser gesagt mit Bergbau. Glauben Sie mir, es ist ein großer Fehler, alle Gruben zu schließen und absaufen zu lassen. Was würde das ändern? Selbst eine Abschaltung aller deutschen Kohlekraftwerke wird den CO²-Anstieg nur minimal verlangsamen. Man glaubt es nicht, aber der weltweite Anstieg der Energieerzeugung durch Kohle lässt die gewonnene CO²-Reduzierung schnell wieder verschwinden.«
»Ihre Verteidigung des Kohleabbaus kann ich verstehen«, gab Ann-Kathrin zu. »Es ist jedoch eine unbestrittene Tatsache, dass trotz Ihrer Beteuerungen bisher keine Lösung für das Klimaproblem gefunden wurde. Der Versuch, in Kraftwerken das bei der Verbrennung fossiler Energien entstehende CO² aufzufangen und in geologischen Lagerstätten zu speichern, scheitert daran, dass diese Speicherung sehr viel Energie verbraucht, für die wiederum umso mehr Kohle verbrannt werden muss. Damit nimmt die Gesamtbelastung durch den Bergbau zu – und nicht ab. Es nützt alles nichts! Die Ursachen des Klimawandels müssen bekämpft werden.«
»Es gibt inzwischen schon neue Kraftwerkstechnologien, die eine deutlich reduzierte CO²-Belastung möglich machen. Man sollte uns einfach nur die Zeit geben, weiter an dieser Entwicklung zu arbeiten. Aber nein, die Regierung beschließt, diese Gruben zuzuschütten – also werden sie zugeschüttet. Dann ist es aus und vorbei mit dem Kohleabbau im Saarland.« Remmark schnaubte wie ein Pferd. »Was glauben Sie, was die uns mit dem endgültigen Abbaustopp antun? Woher bekommen wir in Zukunft unsere Energie? Es ist doch jetzt schon so, dass wir alles teuer von den Scheichs und Russen kaufen, damit wir heizen können. Dabei haben wir das beste Material für Wärme und Energie zu Hause im eigenen Boden.«
»Hinzu kommen die Bergsenkungen …«, setzte die Staatsanwältin erneut mit Gegenargumenten an. Aber auch dagegen schien der Steiger immun zu sein. Er sprach einfach weiter: »Andere Länder bauen doch auch Kohle ab. Und nicht nur ein bisschen, sondern gehen in die Vollen, damit wir denen hinterher die Kohle wieder teuer abkaufen. Hinzu kommt, dass ein Verzicht auf Steinkohle aus dem eigenen Land keinen Nutzen fürs Klima bringt. Die Importkohle kommt nämlich aus weniger umweltschonender Produktion, womit wir die Gesamtbelastung letztendlich doch nur weiter in die Höhe treiben. Ein erheblicher Gewinn für die Umwelt wäre, alle Kohlekraftwerke der Welt mit deutscher Spitzentechnik für Kraftwerke auszustatten. Aber nein! Wir begraben unsere Technik und unseren Fortschritt.« Remmark schob sich ein neues Stück Kautabak in den Mund. »Und was tun wir, wenn die Preise für Gas und Öl unbezahlbar geworden sind? Neue Gruben schaufeln?«
»Die Deutsche Kohle hat sich doch in den letzten Jahren nur noch durch Subventionen halten können. Sogar der Import von Kohle ist für uns billiger als der Abbau im eigenen Land«, argumentierte die Staatsanwältin nun, doch auch damit war Remmark nicht zu überzeugen. Er tippte sich an die Stirn. »Ach was! Irgendwann stehen wir da, können die explodierenden Kosten für die Energie aus dem Ausland nicht mehr tragen und erinnern uns, dass wir doch eigentlich einen eigenen Energieträger haben. Nur wo? Dann ist alles zugeschüttet und begraben worden. Es würde zwanzig Jahre dauern, um wieder an den Stand heranzukommen, den wir jetzt haben. Und wie schwer es wäre, dann wieder von vorne anzufangen! Diese Arbeit können nur Männer machen, die das richtig gelernt haben. Mit dem iPod oder Laptop in der Hand holt keiner die Kohle nach oben. Da sind schwere, körperliche Arbeit und Fachwissen gefragt. Da muss man vom bequemen Stuhl aufstehen, runter unter Tage fahren und ranklotzen.« Remmark schnappte nach Luft. »Alle unsere Fertigkeiten, unsere Technik, unsere Standorte – all das, was in die Entwicklung gesteckt wurde, um den heutigen Standard zu erreichen. Das alles zerstören wir innerhalb von wenigen Wochen, weil die Politiker das so entschieden haben. Mal sehen, wie lange es dauert, bis die merken, dass Atomkraftwerke viel gefährlicher sind.«
Remmark spuckte eine braune Masse direkt neben Ann-Kathrins Füßen auf den Boden.
Die Staatsanwältin beachtete diese Geste nicht. Sie wusste, dass die Bergmänner anstatt zu rauchen Kautabak zerkauten und wieder ausspuckten. Sie hatte außerdem keine Lust mehr, mit diesem Mann über politische Entscheidungen zu diskutieren, weil Remmark resistent gegen ihre Argumente war. Sie ging weiter und schaute sich um. Die Verschachtelungen unter Tage, die Löcher, in denen alles im schwarzen Nichts verschwand, all das erregte ihr Interesse weitaus mehr als ein querköpfiger Hitzkopf. Höhlen waren schon immer ihre Leidenschaft gewesen. Und wenn sie es sich genau anschaute, hatte eine Grube einen gewissen Höhlencharakter.
Plötzlich stieß sie auf eine Stahltür. Sie trat darauf zu und fragte: »Was ist hinter dieser Tür?«
»Eine alte Gezähekammer.«
»Was ist eine Gezähekammer?« Ann-Kathrin stutzte.
»Eine Gezähekammer ist ein Raum, in dem wir das Arbeitsmaterial lagern, das wir nicht ständig mit uns tragen können«, antwortete Remmark. »Diese Kammer ist der Anfang einer vorzeitig eingestellten Strecke. Dort sind wir nur einige Meter vorgestoßen, bis die Planungsabteilung die Arbeiten wegen des Abbaustopps beendet hat.«
»Also sowas wie eine Sackgasse?«
»Genau. Am Montag, wenn die Auszubildenden das erste Mal unter Tage arbeiten, lasse ich sie diesen Eingang zumauern.«
»Wofür werden die Männer überhaupt noch ausgebildet?«
»Sie können mit den Fertigkeiten, die sie hier lernen, in Gruben im Ruhrgebiet sofort zu arbeiten beginnen – solange die Gruben dort noch in Betrieb sind. Oder ins Ausland gehen.«
Ann-Kathrin setzte ihren Weg fort. Die beiden Männer folgten ihr, bis sie auf eine Heiligenfigur in einer Wandnische stießen. Darunter standen die Namen: Karl Fechter und Winfried Bode.
»Was ist den beiden passiert?«, fragte sie.
Remmark schnaubte und schob sich das nächste Stück Kautabak in den Mund. Hektisch bewegte er seine Kiefer, als er antwortete: »Dort ist vor Jahren ein Stollen eingebrochen.«
»Wann war das?«
»Vor elf Jahren – im Herbst 1999«, antwortete Remmark. »Haben Sie nichts von dem Unglück gehört?«
Ann-Kathrin überlegte eine Weile. »Gehört schon. Ich kann mich aber nicht mehr an Einzelheiten erinnern.«
»Mehrere Bergleute sind hier verschüttet worden. Alle konnten nur noch tot geborgen werden.« Eine kurze Pause entstand, dann fügte Remmark an: »Bis auf diese beiden.«
Die Stille, die nun folgte, war bedrückend.
»Gehörten diese beiden Kameraden zu Ihrer Gruppe?«, fragte Schnur.
»Eher umgekehrt. Fechter war vorher der Steiger und ich gehörte zu seiner Partie. Winni Bo war Streckenhauer. Er hing immer mit Fechter zusammen.«
»Winni Bo?«, fragte Schnur staunend.
»So nannten wir Winfried Bode, weil wir schon einige Winnis hatten und Verwechslungen vermeiden wollten«, erklärte Remmark.
»Und was ist mit den Leichen?«
»Sie konnten trotz erheblichen Aufwands nicht gefunden werden. Keine Spur von ihnen.« Remmark spuckte. »Sie waren so tief verschüttet, dass wir sie dort liegen lassen mussten. Deshalb haben wir eine Statue der heiligen Barbara, die Schutzpatronin der Bergleute, an dieser Stelle angebracht – als Gedenkstätte sozusagen.«
Das nahm Schnur zum Anlass, wieder auf den eigentlichen Grund zu sprechen zu kommen, weshalb er überhaupt in diesen tiefen unterirdischen Katakomben umherirrte: »Okay. Wir sind aber hier, um den Fall unseres Toten in luftiger Höhe zu bearbeiten. Wir sollten also weitergehen!« Er wollte so schnell wie möglich wieder an die Oberfläche zurückkommen.
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