»Wie weit ist es bis zur fünften Sohle?«, fragte Schnur weiter.
»Etwa 1200 Meter. Ein Katzensprung.«
»Ich habe wohl keine andere Wahl.« Schnur rieb sich nervös über sein Kinn. »Schließlich müssen wir herausfinden, was hier unten passiert ist.«
Über eine Leiter gelangten sie zur Aufstiegsstelle des Bandes, sprangen auf und eine rasante Fahrt nach oben begann. Schnur spürte, wie ihm die Luft wegblieb. Die Seiten schienen immer näher zu rücken. Er warf einen fragenden Blick auf die Staatsanwältin, doch Ann-Kathrin Kramer wirkte eher amüsiert als beängstigt.
»Alles ok?«, fragte Remmark.
»Und wie!«, gab die Staatsanwältin zurück.
*
Andrea Westrich unterdrückte ein Fluchen, als sie sich Paolo Tremantes Bemühungen ausgesetzt sah, sich bei ihr einzuschmeicheln. Seine schwarzen Haare lagen ordentlich gekämmt. Graumelierte Schläfen verliehen ihm etwas Seriöses. Den ersten Eindruck, den sie von ihm gewonnen hatte, musste sie jedoch schnell korrigieren. Seine Sprüche waren mehr als trivial, seine Selbstsicherheit wirkte lächerlich.
Sie schüttelte energisch ihren Kopf. »Ich bin Polizeibeamtin und bitte Sie, auf Distanz zu bleiben.«
»Schöne Frau«, sprach er mit einer Betonung, die Andrea auf die Palme brachte. »Warum haben Sie so einen unschönen Beruf?«
»Das geht Sie nichts an!« Andrea setzte einen Blick auf, der den kleinen, drahtigen Mann in seine Schranken wies.
»Amore!«, riefen einige Kameraden belustigt, die das Schauspiel beobachtet hatten. »Lässt du wieder deinen Charme spielen?«
Tremante winkte ab und lächelte die Kriminalistin ergeben an.
»Was macht Sie so sicher, dass der Tote Ihr Kollege Peter Dempler ist?«
»Guarda, Bella Donna«, begann Tremante, woraufhin Andrea ihn sofort unterbrach und sagte: »Auf Deutsch bitte!«
»Scusa, bella mia!« Er faltete beide Hände und verbeugte sich leicht vor ihr. »Er ist mit uns runtergefahren, doch dann hat ihn niemand mehr gesehen. Auch als wir nach der Schicht hochgefahren sind – heute im Warndt, Sie wissen schon warum – war er nicht dabei.«
»Kann es nicht sein, dass er mit einer anderen Gruppe von Männern gefahren ist?« Andrea schaute sich um und sah, dass sich der Platz mehr und mehr mit Bergleuten füllte, das Stimmengewirr wurde immer lauter und die Stimmung aggressiver. »Wie ich sehe, arbeiten hier sehr viele. Da kann sich doch einer schon mal in eine andere Gruppe verlaufen.«
»Niemals! Wir fahren mit unserer Partie zusammen runter und nach der Schicht wieder rauf.« Tremante schüttelte energisch den Kopf.
»Partie?«
»Gruppe, Signora. Das ist Bergmannssprache«, antwortete Tremante mit einem Lächeln. »Partie heißt Gruppe.«
»Also könnte Peter Dempler auch mit einer anderen Partie über Tage gefahren sein.«
»No Signora! Glauben Sie mir, es hat unseren Kameraden erwischt. Povero Ragazzo!«, erklärte Tremante mit weinerlicher Stimme. »Seine Lampe und seine Fahrmarke hat er noch nicht zurückgegeben. Fragen Sie doch in der Lampenstube nach!«
»Hatte Dempler mit jemandem Streit unter Tage?«
»No no! Sempre il bene. Er wollte immer, dass alle gut miteinander sind. Niemals würde er streiten.«
Andrea blickte ihn misstrauisch an. Sie überlegte, ob das eine Masche des Italieners war, oder ob er ernsthaft glaubte, was er sagte. Der sentimentale Ausdruck in seinem Gesicht war so plötzlich gekommen, dass sie Schauspielerei dahinter vermutete.
»Warum hat er sich dann von seiner eigenen Partie getrennt?«
»Se sapessimo! Wenn wir das wüssten …« Mit beiden Händen wies Tremante zu der Stelle am Förderturm, an der der Tote geborgen worden war, und fügte an: »Wir können ihn nicht mehr fragen.«
Andrea war sich sicher, dass dieser Mann ihr etwas vorspielte.
*
Am oberen Ende des Förderbandes sprangen sie nacheinander vom Band.
Jürgen Schnur stöhnte, als er sein Gleichgewicht wiederfand. »Warum tu ich mir das an?«
Ann-Kathrin lachte und meinte: »Sag nur, du hast als Kind keine solchen Sachen gemacht?«
»Welche Sachen?«
»Auf fahrende Züge aufspringen und wieder abspringen. Auf ein Fahrstuhldach springen, während die Kabine in die Tiefe geht.«
Schnur schaute die Staatsanwältin an, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Ihr Gesicht war kohleverschmiert. Einzelne Strähnen ihrer roten Haare kamen unter dem Helm zum Vorschein und schimmerten ebenfalls schwarz.
Sie schauten sich um und erkannten schnell, dass es auf der fünften Sohle genauso wie auf der Sechsten aussah, mit dem Unterschied, dass hier viel mehr Betriebsamkeit herrschte. Waggons, beladen mit Material, fuhren an ihnen vorbei, Bergleute eilten hin und her und riefen sich mit lauten Stimmen Informationen zu.
»Also, hier läuft das Förderband, das mit Kohle beladen ist. Über Bandberg II und die Hauptstrecke kommt sie dann in den Kohlenbunker 3 auf Sohle fünf, von dort auf das nächste Förderband, das bis zum Warndtschacht auf die vierte Sohle führt«, erklärte Remmark. »Genauso – also über die Bänder – können auch die Kameraden zum Warndt gelangen, was wir aber kaum noch machen, weil die Fahrt unter Tage viel länger dauert als über Tage. Es sei denn, die Seilfahrt in Velsen ist blockiert – so wie jetzt.«
»Aber wir wollen zum Gustavschacht«, stellte die Staatsanwältin klar. »Denn dort ist es passiert.«
»Wir fahren mit dem Zug, weil es ein gutes Stück von hier entfernt ist«, sagte Remmark.
Doch Schnur lehnte ab. Seine Klaustrophobie machte ihm ohnehin zu schaffen. Sein Herz klopfte in seiner Brust. Die Luft wurde knapp. Überall, wo er hinschaute, sah er nur finstere Gänge, die schwach ausgeleuchtet waren. Der Gedanke, wieder in die enge Kabine des Personenzuges zu steigen, machte alles nur noch schlimmer.
»Ich schlage vor, wir gehen zu Fuß«, sagte er und legte so viel Entschlossenheit in seine Stimme, wie es ihm in dieser Situation möglich war. »Sollte ein Kampf stattgefunden haben, könnte es sein, dass wir auf Spuren stoßen.«
»Wie Sie meinen«, brummte Remmark und marschierte los.
Sie entfernten sich immer weiter von der Abstiegsstelle, bis es still wurde. Nur ihre eigenen Schritte und ihr Schnaufen waren in dem düsteren Gang zu hören.
»Hier ist es verdammt leise«, stellte Schnur nach einer Weile fest. »Und finster.«
»Hier wird an den Stellen an Material und Strom gespart, an denen nicht mehr gearbeitet wird.«
»Heißt das, dass hier sämtliche Kohle bereits abgebaut ist?«, fragte Schnur.
Remmark nestelte an seiner Jackentasche, fischte etwas heraus, was er sich in den Mund schob, und antwortete: »Hier ist kein weiterer Abbau mehr geplant. Aus und vorbei! Kohle ist hier im Erdreich noch mehr als genug zu finden.«
Schnur spürte, dass er das Thema falsch angepackt hatte. Der Abbaustopp war bei den Bergleuten nicht auf große Freude gestoßen.
»Sie ahnen ja gar nicht, wie viele hunderttausend Tonnen Kohle hier unter der Erde noch schlummern. Dafür bräuchte man Tausende von Bergleuten und mehrere Hundert Jahre Zeit, um das alles abzubauen.«
»Das glaube ich Ihnen«, versuchte Schnur umzuschwenken. »Aber deshalb sind wir nicht hier.«
»Was glauben Sie, wie die Stimmung hier unten ist?«, brüllte Remmark weiter, als hätte Schnur nichts gesagt. »Abbaustopp! Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich lachen. Die Länder wollen keine Subventionen mehr für den Abbau von Kohle bezahlen und faseln uns etwas von CO²-Ausstoß und Klimawandel. Und warum?«
»Die faseln nicht nur etwas von CO²-Ausstoß, die Umweltbelastung ist eine Tatsache«, mischte sich nun die Staatsanwältin ein. »Das Verbrennen von Steinkohle setzt nun mal CO² frei, sodass es sich in der Atmosphäre anreichern kann und das Klima erwärmt. Viele Millionen Tonnen CO² wurden dadurch schon freigesetzt. Selbst das modernste Kohlekraftwerk stößt im Vergleich zu einem Gaskraftwerk doppelt so viel CO² aus. Klimaschutz ist mit Bergbau unmöglich.«
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