Die Kulibahn hielt an.
Remmark, Schnur und Ann-Kathrin setzten ihre Staubmasken auf und stiegen aus dem schmalen Zug. Remmark bediente einen Taster, der an der Wand des Gangs befestigt war, und löste ein Signal aus. Schlagartig wurde es stiller, aber wohl fühlte sich keiner. Schnur wollte sich in Ruhe umschauen, doch Remmark wies ihn an, ihm zu folgen. Sie blickten in einen schmalen Gang, der rechtwinklig schräg nach unten abzweigte. Zu ihrer Rechten befanden sich schwere Stahlketten knapp über dem Boden, auf denen Kohle und sonstiges Gestein lagerten. Eine große Maschine mit schraubenähnlichen Zahnrädern vorne und hinten nahm den meisten Platz in diesem engen Schlauch ein. Stählerne Stützen ragten in der Mitte der Strecke in die Höhe. Heiße Luft blies ihnen von unten entgegen. Nur langsam verbesserte sich die Sicht. Doch leider sah Schnur die über den Boden verlaufende Querstrebe zu spät. Er stolperte und landete schmerzhaft auf seinem Knie.
Schwarzgesichtige Bergmänner grinsten breit, einige lachten, während Schnur sich rasch wieder erhob und so tat, als spürte er nichts. Andere schauten staunend auf Ann-Kathrin, als sie merkten, dass eine Frau unter der Ausrüstung steckte. Nach fast 300 beschwerlichen Metern, in denen sie sich nur sehr langsam und vorsichtig bewegen konnten, erreichten sie den Walzenschrämlader, der an der unteren Ecke des Strebes stand.
»Was sollen wir hier?«, fragte Schnur mürrisch. »Ich will Anhaltspunkte dafür finden, ob wir es hier mit Unfall oder Mord zu tun haben, und nicht die Reise zum Mittelpunkt der Erde nachspielen!«
»Ich will Ihnen zeigen, wo Pitt gearbeitet hat«, antwortete Remmark. »Er war Schildfahrer.«
Schnur schaute den Steiger fragend an.
»Die Hydraulikschilde, über die Sie gerade gestolpert sind, stützen das Gebirge ab, das durch das Abfräsen der Kohle mit dem Walzenschrämlader frei wird.«
Plötzlich rief einer der Bergmänner: »Was ist los? Kann ich laufen lassen? Die Grubenwarte hat schon dreimal nachgefragt, warum die Förderung steht.«
Remmark gab ihm ein Zeichen und meinte zu Schnur: »Jetzt können Sie gleichen sehen, was ich meine.«
Dann hörte man durch einen Lautsprecher die Ansage: »Vorsicht am Panzer.« Und sofort begann wieder der ohrenbetäubende Lärm.
Sie sahen, wie sich die Zähne der Walze in die schwarze Wand hinein frästen. Die Kohle fiel direkt vor ihnen auf die schweren, stählernen Ketten des Panzerförderers am Fuß des Strebes. Dann bewegten sich die stählernen Mitnehmer, deren Bodenstreben für Schnur zur Stolperfalle geworden waren. Die Platten über ihnen, die die Decke vor Einbruch sicherten, senkten sich und rückten vor, bis sie fast an die Kohlewand anstießen, und fuhren wieder hoch.
In der Zwischenzeit rumpelte und krachte es brachial von der anderen Seite. Schnur und Ann-Kathrin drehten sich erschrocken um. Remmark erklärte schreiend, dass die Kohle gerade auf den nächsten Panzer in der Fußstrecke fiel und durch den Brecher gefahren wurde. Große, unregelmäßige Kohle- und Gesteinsbrocken fuhren auf der einen Seite in den Kasten von der Größe eines VW-Busses hinein und kamen am anderen Ende zerkleinert wieder heraus, wo der Transport ebenfalls auf einem schweren Kettenförderer fortgesetzt wurde.
Hinter den Schilden lag eine Aushöhlung, die in totaler Schwärze versank. Der Blick der Staatsanwältin blieb genau dort haften. Sie fühlte sich magisch angezogen – als sei sie immer noch das neugierige Mädchen, dem keine Gefahr zu groß war. Sie beugte sich vor, um durch den schmalen Spalt zwischen zwei Schilden hindurchzuschauen, als Remmark sie an ihrem langen Grubenmantel packte und zurückzog.
»Halt, Frau Staatsanwältin! Der Raum hinter den Schilden ist tabu! Die ungeschützte Stelle, die nach dem Abbau hinter dem Streb zurückbleibt, nennt man den Alten Mann .«
»Warum wird der nicht abgestützt?«
»Weil alle Versuche, diesen Raum zu sichern, zu teuer wären. Und da der Kohleabbau ohnehin schon zu teuer ist, wird dafür kein Geld investiert.«
»Klingt gefährlich.«
»Ist es auch! Wer dort verschüttet wird, kann nicht mehr geborgen werden.«
Mit schnellen Schritten entfernte sich Remmark, winkte den beiden Besuchern ihm zu folgen und steuerte die nächste Kulibahn an.
»Wo fahren wir jetzt hin?«, fragte Schnur, als sie sich wieder hintereinander in die engen Sitze quetschten.
»Zur Zwischensohle. Dort fährt uns die nächste Kulibahn zur sechsten Sohle.«
»Ist ihr Kollege auf der sechsten Sohle verunglückt?«
»Möglich.«
Schnur war es ganz recht, dass er diese Entfernungen nicht laufen musste. Doch kaum hatte er diesen Gedanken ausgedacht, hieß es: »Aussteigen! Den Rest müssen wir zu Fuß zurücklegen.«
Nach einem Kilometer erreichten sie den Gustavschacht.
»Hier muss es passiert sein«, sagte Remmark.
»Hier kann es nicht passiert sein«, widersprach Schnur.
»Wir haben uns auch schon die Köpfe darüber zerbrochen«, gab Remmark zu. »Er muss hier hinaufgestiegen sein. Vielleicht fiel er in Ohnmacht und stürzte in den Schacht.« Er zeigte auf eine metallene Treppe, die an der Außenseite des Schachtes bis zum Dach des Korbs führte.
»Auch die Theorie funktioniert nicht.« Schnur hustete und krächzte weiter: »Der Abstand zwischen dem Toten und dem Fahrstuhl …«
»… Korb …«
»… war dafür viel zu groß.«
»Wie groß?«, hakte Remmark nach.
»Nach den Messungen der Spusi beträgt der Abstand zweihundertfünfzig Meter.«
Remmark zog seinen Helm aus und kratzte sich am Kopf. Seine grauen Haare lagen wie ein lockiger Kranz um die kahle Stelle an seinem Hinterkopf. Er schwieg eine Weile. Nur die Geräusche einiger entfernter Maschinen und der starke Luftzug der Bewetterung waren zu hören. Dann meinte er: »Okay! Ich habe eine Idee, wie es passiert sein könnte.«
»Wie?«
»Pitt hatte mir schon gleich morgens im Zechensaal kurz vor der Anfahrt zu verstehen gegeben, dass er sich nicht wohlfühlt. Ich wollte ihn heimschicken, aber er meinte, es sei nicht so schlimm. Vermutlich wurde es dann doch zu einer ernsten Sache und er ist über Bandberg II zur fünften Sohle hochgefahren.«
»Vermutlich? Sie wissen also nicht, was Ihre Leute so während der Schicht treiben?«, hakte Schnur nach.
»Doch! Auf die Jungs ist Verlass«, beharrte Remmark. »Wenn Pitt wirklich zur fünften Sohle gefahren ist, ohne sich bei mir abzumelden, dann hat er einem seiner Kameraden Bescheid gesagt.«
»Aber der Kollege müsste diese Mitteilung doch an Sie weitergeben!« Schnur spürte, dass hier etwas nicht stimmte.
»Kann sein, dass derjenige es vergessen hat. Ich habe mich schon umgehört, aber bis jetzt hat mir keiner bestätigt, dass Pitt sich bei ihm abgemeldet hätte.«
»Okay.« Schnur winkte ab. »Und mit welchem Gerät ist Dempler auf die fünfte Sohle gekommen? Das Wort habe ich eben nicht richtig verstanden.«
»Bandberg II.«
»Was ist das?«
»Damit meine ich einen schräg nach oben führenden Stollen mit einem Förderband, das die Kohle von der sechsten Sohle zur fünften Sohle fährt, weil sie nur von dort weiter bis zum Warndtschacht transportiert werden kann.«
»Wie kommen wir dorthin?«
Remmark ging die Hälfte der Strecke zurück, die sie gerade gekommen waren. Dort sahen sie, wie die Kohle, die eben noch im Streb abgebaut worden war, auf Förderbändern durch einen engen Tunnel nach oben transportiert wurde.
»Hier beginnt der Bandberg II. Er führt zur fünften Sohle in Richtung Warndtschacht.«
»Aber der Mann kam aus dem Schacht in Velsen.«
»Entweder wir nehmen jetzt den Weg, den Pitt aller Wahrscheinlichkeit nach genommen hat, oder wir fahren wieder über Tage«, brummte Remmark genervt.
Der Anblick des düsteren Tunnels, dessen Beleuchtung mehr als spärlich ausfiel, löste Atemnot bei dem Kommissar aus. In dieser Enge lief das Band in zügiger Geschwindigkeit und war mit schwarzem Gestein beladen.
Читать дальше