»Wie? Was?«, frage Schnur. Erst jetzt fielen ihm die wartenden Blicke auf.
»Ich vermute mal, dass du als zuständiger Chefermittler mit den Jungs nach oben fahren sollst«, antwortete Erik.
»Warum? Wir wissen doch gar nicht, ob es sich um Mord handelt.«
Schnur wurde mulmig zumute.
»Du bist hier, um das zu entscheiden.«
Schnur fuhr sich nervös über sein Kinn und zögerte.
»Hast wohl deinen Rasierapparat vergessen, Barbarossa«, spottete Erik. Er wusste, wie peinlich genau Schnur stets seine roten Bartstoppeln entfernte, kaum dass sie sichtbar werden konnten. Als könnte er damit diesen elenden Spitznamen vergessen machen.
»Noch einmal Barbarossa und ich schicke dich nach oben«, murrte Schnur.
Er zog den Schutzanzug und die Schutzhaube über, die ihm ein Mitarbeiter der Spurensicherung entgegenhielt, und stapfte zur Arbeitsbühne.
*
Das kratzende Dröhnen des Walzenschrämladers war laut bis in die Fußstrecke von Flöz 7 in über tausend Metern Tiefe zu hören. Während die beiden Schneidwalzen unaufhörlich rotierten, schrämte die vordere die Kohle im oberen Bereich ab und die hintere Walze die Kohle vom unteren Bereich des Flözes. Direkt im Anschluss wurden hydraulisch gesteuerte Stahlschilde in Bewegung gesetzt, um den Hohlraum, der durch den Abbau entstand, gegen den enormen Gebirgsdruck abzusichern. Die Männer bedienten die Maschinen mit großer Sicherheit. Jeder wusste genau, was er zu tun hatte.
Plötzlich klingelte das Telefon.
Steiger Georg Remmark nahm den Hörer in die Hand, während die lauten Maschinen weiterliefen. Er lauschte eine Weile. Dann legte er auf, richtete seinen Blick auf die Männer und winkte mit seiner Grubenlampe vertikal auf und ab. Ein Zeichen dafür, dass sie ihre Arbeit anhalten sollten. Sofort stellten sie die Maschinen ab.
Die Stille, die plötzlich eintrat, war gespenstig. Nur der Luftzug der Bewetterung war zu hören. Unruhe machte sich unter den Männern breit. Während der Kohleförderung ohne ersichtlichen Grund abzubrechen, war ungewöhnlich. Endlich gab der Steiger mit seiner Kopflampe ein rotierendes Zeichen. Dies bedeutete, ihm in die Bandstrecke zu folgen.
»Was ist passiert?«
»Es hat über Tage einen Unfall gegeben«, antwortete Remmark. »Jemand ist mit dem Korb bei der Leerfahrt verunglückt. Deshalb müssen wir aufhören und am Warndtschacht ausfahren.«
»Wie ist das passiert? Wie kann man bei der Seilfahrt verunglücken?«, fragten die Kameraden ungläubig.
Remmark zögerte kurz, bevor er den genauen Bericht wiedergab, den er über das Telefon erhalten hatte. »Es heißt, es wäre einer von uns.«
»Das war niemals ein Unfall«, widersprach Michael Bonhoff, den alle unter Tage »Mimose« nannten. »Wie soll das möglich sein? Niemand kann am Stahlseil festhängen, bis er unter die Seilscheibe gerät.«
»Kein Grund durchzudrehen, Mimose«, rief Remmark unfreundlich und fügte noch lauter an: »Es war ein Unfall! Was soll es sonst gewesen sein?«
Nur große Augen aus kohleverschmierten Gesichtern starrten ihn verständnislos an.
»Was glaubt ihr, was passiert, wenn hier ein Mord vermutet wird? Dann wimmelt es nur so von Polizei, die Grube wird heute schon dichtgemacht. Wollt ihr das?«
Allgemeines Kopfschütteln.
»Ich kann nur hoffen, dass es keinen von uns erwischt hat«, fügte Remmark noch hinzu.
Alle schauten sich um, bis Paolo Tremante sagte: »Pitt fehlt.«
»Den habe ich heute noch gar nicht gesehen«, trug Hans Rach bei. »Ist er überhaupt mit uns runtergefahren?«
»Ja. Er war heute Morgen bei der Anwesenheitskontrolle dabei«, versicherte Remmark.
»Scheiße! Dann müssen wir nach ihm suchen«, bestimmte Tremante.
»Okay«, stimmte Remmark zu. »Schaut überall nach, wo er sein könnte. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, benahm er sich äußerst seltsam. Überhaupt! Seit bei ihm zu Hause eingebrochen wurde, verhält er sich, als würde ihm ständig jemand folgen.«
»Hat Verfolgungswahn, der Ärmste«, meinte Tremante.
»Vielleicht wollte er sich mal wieder früher rausschmuggeln«, sagte Bonhoff scheinheilig. Ihm war eingefallen, dass sich Dempler bei ihm abgemeldet und gleichzeitig gebeten hatte, das nicht zu melden. Bonhoff konnte nur hoffen, dass Dempler bald wieder wohlbehalten bei ihnen eintraf.
»Heute findet die Leerfahrt für die Besucher statt«, pflichtete ihm Tremante bei.
»Pitt weiß das – wie wir alle hier«, stellte Remmark klar.
»Es könnte sein, dass er mit diesem Korb nach oben wollte«, spekulierte Tremante weiter.
Remmark nickte und befahl: »Okay! Dann wissen wir, wo wir suchen müssen. Am Schacht rufe ich den Maschinisten an. Der kann uns sagen, ob jemand die Schachttür geöffnet hat.«
Die Männer zogen los.
»Und kein Wort über den Zustand unseres Kameraden!«, rief Remmark ihnen noch nach.
Bonhoff ging ein paar Meter hinter Remmark und Tremante her. An jedem Streckenabzweig riefen sie laut nach dem vermissten Kameraden. Die beiden bemerkten ihn nicht. Sie unterhielten sich lautstark, bis sie in Streit gerieten. Immer wieder schauten sie sich um, weshalb Bonhoff zusah, dass sich sein Abstand zu ihnen vergrößerte.
Doch leider konnte er dadurch nur noch Bruchstücke ihres Gesprächs verstehen. Worte wie »Streit« und »selber Schuld« vernahm er ganz deutlich.
Sofort fühlte er sich unwohl. Wovon sprachen die beiden?
Sie erreichten den Schacht, doch von Peter Dempler keine Spur.
Plötzlich ertönte das Signal für die Seilfahrt.
Wie aus dem Nichts tauchten von allen Seiten die Männer auf und schrien: »Was ist hier los?« – »Fährt der Korb wieder?« – »Wollen die da oben uns verarschen? Wir sollten doch im Warndt ausfahren, oder?«
Bonhoff gesellte sich unauffällig dazu und brüllte mit. Erleichtert stellte er fest, dass weder Remmark noch Tremante bemerkt hatten, dass er ihr Gespräch mitgehört hatte.
*
Langsam wurde die Arbeitsbühne angehoben. Schnur wechselte einen Blick mit dem Gerichtsmediziner, der sich ebenfalls verkrampft am Geländer festhielt, während sie immer höher und höher fuhren. Nebel stand in der Luft, sodass ihre Sicht lediglich über das Grubengelände reichte, auf dem alles in trostlosem Grau, Braun und Schwarz schimmerte.
Endlich gelangten sie an die Seilscheibe am oberen Ende des Förderturms, zu der Stelle, an der der Tote unter dem Stahlseil eingeklemmt war.
Zunächst konnte Schnur nichts einordnen. Dunkelrot, Dunkelgrün und Dunkelbraun vermischt mit Weiß und Gelb, verschlungen mit rostigem Metall und Stahl offenbarten sich vor seinen Augen. Bis er endlich verstand. Der Tote war regelrecht zerquetscht worden, sodass Haut, Knochen, Organe und Fettgewebe an beiden Seiten des Stahlseils auf der Seilscheibe herausquollen.
Dr. Wolbert gab einige Anweisungen, woraufhin die Mitarbeiter des Labors begannen, die Einzelteile behutsam in Säcke zu verstauen. Währenddessen suchten die beiden Kollegen der Spusi den Teil des Stahlseils ab, den sie von ihrem Standort aus erreichen konnten.
Schnur fühlte sich deplatziert. Schon das zweite Mal in dieser kurzen Zeit. Warum stand er in vierzig Metern Höhe – mit Höhenangst – bei einem Toten, der nicht mehr als solcher zu erkennen war? Mit Mühe überwand er sich und stellte Wolbert seine erste Frage: »Kannst du herausfinden, ob das Opfer noch gelebt hat, bevor es zwischen Stahlseil und Seilscheibe geraten ist?«
»Ich denke schon«, antwortete der Gerichtsmediziner. »Das Opfer ist nicht total zerstückelt. Es gibt unversehrte Teile, an denen ich verwertbare Spuren finden kann. Nur …«
»Nur was?«
»Ich finde den Kopf nicht.«
Gleichzeitig mit Wolbert richtete er seinen Blick nach unten. Dort sahen sie die Plane, die von anderen Mitarbeitern der Spurensicherung und dem Labor schon vor einer Weile aufgespannt worden war, um herabfallende Körperteile des Opfers aufzufangen.
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