»Kann es sein, dass der Kopf des Opfers heruntergefallen ist?«, rief Wolbert gegen den starken Wind an.
Die Männer in ihren Schutzanzügen nickten. Einer hob einen viereckigen Behälter hoch. Wolbert zeigte ihnen den erhobenen Daumen und sagte zu Schnur: »Damit besteht eine gute Chance, herauszufinden, was kurz vor dem Tod des Opfers passiert ist.«
»Wenigstens etwas.«
»Außerdem sind beide Hände unversehrt«, sprach Wolbert weiter und drehte sich zu den Resten um, die gerade sicher verwahrt wurden. »Eine steckt noch im Handschuh. Die andere ist frei. Die werden wir sofort sichern.« Er wollte Schnur die besagten Teile zeigen, doch der Kommissariatsleiter winkte hastig ab und sagte: »Das ist gut. Dann können wir vielleicht feststellen, ob es sich um einen Unfall oder um Mord handelt.«
»Unfall halte ich fast für unmöglich«, gab Wolbert zu bedenken. »Es sei denn, er hat sich in dem Seil verfangen und wurde sofort bewusstlos.«
»Kann man sich unter Tage einfach so in einem Seil verfangen, das einen Aufzug zieht?«
»Keine Ahnung«, gestand Wolbert. »Ich bin Gerichtsmediziner. Kein Bergmann.«
»Problem Nummer eins, das wir hier haben«, knurrte Schnur mürrisch, »denn ich bin Kriminalkommissar und auch kein Bergmann. Mal sehen, wie viele Probleme in diesem Fall noch auftauchen.«
Eine laute Sirene ertönte. Vor Schreck wäre Schnur fast aus dem Korb gefallen. Erst als er wieder aufsah, erkannte er den Grund für den Lärm. Das Stahlseil wurde weiter angezogen.
»Warum warten die nicht, bis wir wieder unten sind?«, brüllte er wütend.
»Weil wir alles von dem Toten mitnehmen müssen. Auch das, was unter dem Seil eingeklemmt ist.«
Fröstelnd schaute Schnur weg und beobachtete, wie die Kollegen in luftiger Höhe an dem Stahlseil nach Spuren suchten. Es sah an dieser Stelle beschädigt aus. Aber er konnte sich keine Gedanken darum machen, weil er spürte, wie ihm schwindelig wurde. Hastig richtete er seinen Blick nach unten. Sofort verging das Schwindelgefühl wieder. Aus dieser Höhe sahen die Häuser und die Menschen unter ihm klein aus. Deutlich konnte er die Anordnung der verschiedenen Gebäude erkennen, die alle zur Grube Velsen gehören – oder mal gehört haben. Ein freier Platz hob sich deutlich vom Rest der Umgebung ab. Dort stand früher eine riesige Halle für die Kohlenwäsche, die nach der teilweisen Stilllegung der Anlage abgerissen worden war. Von oben sah es wie eine klaffende Wunde aus. Er drehte sich von dem schwarzen, trostlos aussehenden Stück Land weg und schaute in die Richtung, in der sich die vielen Hallen aneinanderreihten. Hinter der leer stehenden Maschinenhalle befand sich inzwischen eine Müllverbrennungsanlage, deren Bau lange umstritten war. Jetzt nahm sie hier den größten Platz des ehemaligen Grubengeländes ein. Große Müllwagen fuhren ständig auf das Gelände und wieder herunter. Sein Blick wanderte weiter über das ehemalige Zechenhaus und die Waschkaue bis hin zu dem Berg, in dem inzwischen ein Besucherbergwerk untergebracht war. In diesen Berg waren Stollen und Schächte getrieben worden, um junge, angehende Bergleute auf die Arbeit unter Tage vorzubereiten. Schnur bedauerte, dass er dieses Bergwerk nicht schon längst besucht hatte. Ein bisschen Fachwissen über die Arbeit unter Tage würde seinen Ermittlungen in dem Fall bestimmt nicht schaden. Was sich über Tage befand, wusste er in etwa, weil er oft genug an der Grube Velsen vorbeigefahren war. Doch die Welt darunter war ihm fremd. Er sah die sogenannte Kaffeeküche, wo die Bergleute mit deftigem Essen verköstigt wurden. Dort wäre er jetzt lieber – anstatt in vierzig Metern Höhe.
Er beobachtete, wie mehrere Autos in hohem Tempo auf das Grubengelände einbogen.
Das sah nicht gut aus.
Hastig rief er: »Hat jemand ein Fernglas?«
Der Mann direkt neben ihm reichte ihm eins. Aus den Wagen stiegen Bergmänner. Aufgrund des gesperrten Gustavschachts hatten sie über den Warndtschacht über Tage fahren müssen. Eigentlich kein besonderer Aufwand, weil dort ihre Autos parkten. Doch die Neugier trieb sie zurück nach Velsen. Das hektische Treiben machte Schnur nervös.
»Ich muss sofort da runter«, rief er.
»Keine Panik«, versuchte Wolbert zu beruhigen, doch Schnur erklärte ihm: »Dort unten gibt es jetzt Ärger. Und ich bin dafür verantwortlich zu entscheiden, ob wir es hier mit einem Unfall oder einem Verbrechen zu tun haben.«
»Und was willst du ihnen sagen?«
»Das, was du mir jetzt sagst«, entgegnete Schnur. »Was ist das hier? Unfall, Selbstmord oder gar Mord?«
»Ich kann es wirklich erst sagen, wenn ich die Einzelteile seziert habe«, antwortete Wolbert ausweichend.
»Aber einen Eindruck hast du doch schon. Oder?«
Wolbert zögerte, während die Bühne langsam nach unten fuhr. Erst als sie auf dem sicheren Boden aufsetzten, sagte er: »Die Überreste des Toten sagen etwas darüber aus, in welcher Position er am Seil hing: mit herunterhängenden Armen.«
»Was sagt dir das?«
»Dass ihn irgendjemand an diesem Seil fixiert hat, als er bewegungsunfähig war.«
»Das schließt Selbstmord also aus?«
»Ja. Für mich deutet das, was wir bisher wissen, auf Mord hin.«
*
Je näher Schnur den Menschen kam, umso lauter hörte er das Geschrei. Es klang so, als wüssten die Bergleute schon alles: wer der Tote auf dem Förderturm war und wie er dorthin gelangen konnte. Erst als er sich mit in die Hüften gestemmten Fäusten dazustellte, verstummten alle und starrten ihn an.
»Mein Name ist Jürgen Schnur, ich bin Kriminalhauptkommissar und leite die Ermittlungen in diesem Fall«, sagte er zur Begrüßung. »Wer glaubt, etwas Hilfreiches beitragen zu können, soll sich an mich wenden.«
»Das ist kein Kriminalfall, sondern ein Unfall«, erklärte ein großer kräftiger Mann, dessen Gesicht rot schimmerte. »Und außerdem ist dafür das Bergamt zuständig und nicht die Kriminalpolizei.«
»Und wer sind Sie?«
»Georg Remmark – genannt Schorsch.«
»Gut! Und welchen Beruf üben Sie aus?«
Verdutzt starrte Remmark auf Schnur, bevor er antwortete: »Ich bin Steiger, hier in der Grube. Schon seit zehn Jahren.«
»Schön! Als Steiger in der Grube können Sie wohl schwerlich ein Verbrechen von einem Unfall unterscheiden. Überlassen die die Polizeiarbeit also der Polizei.«
»Einverstanden. Dann gehen Sie auch dorthin, wo Sie gebraucht werden. Hier jedenfalls nicht.«
»Die Entscheidung liegt sicher nicht bei Ihnen. Also beantworten Sie einfach meine Fragen, umso schneller sind wir hier fertig«, beharrte Schnur, wobei er seinen Ärger über diesen überheblichen Mann unterdrückte. »Was bringt Sie darauf, dass hier ein Unfall vorliegt? Nach meinen Erkenntnissen ist es unmöglich, einfach so an einem Stahlseil festzuhängen, ohne dass fremde Hilfe dazu nötig wäre.«
»Pitt ging es den ganzen Morgen schon schlecht«, erklärte Remmark hastig.
»Wer ist Pitt?«
»Peter Dempler. Der Mann, der verunglückt ist.«
»Wie sind Sie so schnell auf ihn gekommen?«
»Er ist der Einzige, der fehlt. Und er war es auch, der mir heute Morgen schon Sorgen gemacht hat, weil es ihm nicht gut ging«, erklärte Remmark nun sachlicher. »Er hat sich alleine von der sechsten Sohle auf den Weg zum Schacht gemacht und wollte ausfahren. Mit dem Förderband über die fünfte Sohle zum Warndtschacht zu gelangen war zu der Zeit nicht möglich, weil die Bänder stillstanden. Zwischen den Schichten hält sich normalerweise kein Anschläger auf der sechsten Sohle am Schacht auf. Vielleicht hat er versucht, über die Fahrten hoch zur fünften Sohle zu gelangen …«
»Fahrten?«
»… Leiter soll das heißen«, murrte Remmark. »Jedenfalls würde ich ihm das zutrauen. Möglich, dass er abgestürzt ist und versucht hat, sich am Seil festzuhalten. Dabei hat er das Bewusstsein verloren.«
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