Die mächtigen Räder hoch oben auf dem Schachtbock bewegten sich.
»Unter dem Gerüst ist die Schachthalle. Dort wird der Förderkorb auf der einen Seite in die Tiefe abgelassen, auf der anderen Seite gleichzeitig hinaufgezogen. Das ist das Koepe-Prinzip, also eine Endlosseilförderung. Das bedeutet, dass beide Körbe an einem Seil hängen und somit immer beide, wie bei einem Paternosteraufzug, in Bewegung sind. Die Stahlseile laufen über die Seilscheiben – die ihr dort, hoch oben auf dem Förderturm, sehen könnt. So entsteht keine Reibung, die das Material brüchig machen könnte. Ein Unterseil sorgt für das Gleichgewicht der beiden Körbe.«
Alle starrten auf den hohen Förderturm.
»Wir können jetzt die Schachthalle betreten und zusehen, wie der Korb aus der Tiefe nach oben gelangt«, sprach Hollinger weiter und steuerte die große Eisentür an.
Doch niemand folgte ihm. Er schaute sich um und sah in kreideweiße Gesichter.
»Was ist los?«, fragte er.
Alle zeigten mit entsetzten Blicken nach oben. Also schaute er ebenfalls in die angegebene Richtung und sah, was die Besucher in Schock versetzte.
Dort hing etwas am Stahlseil, das nach oben gezogen wurde. Erst als das Bündel über die Gerüststreben hinaus gelangte, war deutlich zu erkennen, was dort hochzogen wurde: ein Bergmann.
Alle schrien durcheinander.
Hollinger rannte zum Steuerstand im Maschinenhaus, damit der Maschinist am Pult die Fahrt stoppte, bevor der Mann an die Seilscheibe geriet.
Das Geschrei wurde immer lauter.
Hollinger rannte so schnell er konnte, brüllte schon in der Tür: »Halt! Maschine aus!«
Doch es war zu spät.
Als er wieder auf der Außentreppe ankam, sah er gerade noch, wie der Körper zwischen Stahlseil und Stahlscheibe eingequetscht wurde, während die großen Räder langsam zum Stillstand kamen.
Dort blieb der leblose Körper in einer Höhe von zweiundvierzig Metern hängen. Totenstille breitete sich aus.
Kriminalhauptkommissar Jürgen Schnur stand ratlos auf dem zugigen Gelände und hielt krampfhaft seinen Blick nach oben gerichtet. Als der Anruf der Staatsanwältin in seinem Büro eingegangen war, hieß es, dass auf der Grube Velsen ein tödlicher Unfall passiert sei. Warum Ann-Kathrin Reichert ihn für einen Unfall am Schacht eines Bergwerks auf den Plan rief, wusste Schnur nicht. Normalerweise wurde für solche Fälle die Bergpolizei gerufen. Die Kriminalpolizei hatte keinerlei Befugnisse, auf einem Grubengelände, geschweige denn in einer Grube zu ermitteln. Er fühlte sich auf dem großen, zugigen Gelände voller Menschen und Maschinen deplatziert.
Die Beamten der Schutzpolizei sorgten dafür, dass sich die Schaulustigen, deren Geschrei immer aufgeregter wurde, auf einem Parkplatz versammelten. Die Kollegen der Spurensicherung veranstalteten auf dem Förderturm in vierzig Metern Höhe eine Art Freeclimbing. Sie waren damit beschäftigt Schutzfolien auszubreiten, um die Reste des Toten auffangen zu können, sollten sie sich von dem Stahlseil lösen. Männer in Bergmannskluft diskutierten heftig miteinander, ohne das Spektakel um sie herum noch wahrzunehmen.
»Ich dachte, der Betrieb auf dieser Grube sei eingestellt«, sagte Kommissar Erik Tenes und stellte sich neben seinen Vorgesetzten.
Erschrocken drehte Schnur sich um und fragte zurück: »Was tust du denn hier? Ich dachte, du bist noch in Reha.«
»Irgendwann muss doch mal Schluss ein«, antwortete Erik und grinste verkrampft. »Ich war jetzt drei Monate krank. Die Decke fällt mir auf den Kopf. Und sollte das passieren, komme ich in die nächste Reha für Polizisten mit Dachschaden. Willst du das wirklich riskieren?«
Schnur schaute Erik prüfend an. Sein Gesicht war blass und eingefallen, sein Lachen wirkte gezwungen. »Nein! Dann ist es besser, du kehrst in unseren sicheren Schoß zurück«, sagte er grinsend.
Der letzte Einsatz hatte Erik Tenes fast das Leben gekostet. Lange hatte er im Krankenhaus gelegen, um sich von seinen Verletzungen zu erholen, bevor er zu einer Rehamaßnahme geschickt worden war. Auch wenn er vorgab, wieder der Alte zu sein, so sah sein Vorgesetzter doch, dass er noch weit davon entfernt war. Trotzdem wollte er seinen Freund und Kollegen zurück in seinem Team haben, weil er hoffte, dass die Arbeit eine gute Medizin für ihn war. »Du weißt ja, dass ich jede Hilfe gut gebrauchen kann«, fügte er an. »Anke ist in Mutter-Kind-Kur.«
»Nur noch bis Freitag«, erklärte Erik. »Dafür ist Kriminalrat Forseti in Urlaub. Der wird uns am meisten fehlen.«
»Von wegen fehlen! Wenn Forseti weg ist, fühle ich mich auch wie im Urlaub.«
»Also um auf meine Frage zurückzukommen«, erinnerte Erik, »warum ist dieses Bergwerk noch in Betrieb? Ich dachte, die Bergwerke wären alle stillgelegt.«
»Die Grube Warndt wird erst 2012 stillgelegt«, antwortete Schnur. »Die beiden Anlagen Ensdorf und Warndt fördern bis zur letzten Sekunde.«
»Warndt? Sind wir hier nicht in Velsen?« Erik staunte.
»Velsen und Warndt zählen als ein Bergwerk.«
»Wieder was dazugelernt.«
Schnur schaute sich weiter um. Er sah die Polizeibeamtin Andrea Westrich. Sie befand sich unter den Schaulustigen. Ausgerüstet mit Block und Stift befragte sie die Zeugen dieses spektakulären Ereignisses.
Doch plötzlich wurde er abgelenkt, als eine Frage an sein Ohr drang: »Warum wurde ich hierherbestellt?« Er drehte sich um und sah in das verfrorene Gesicht von Dr. Thomas Wolbert. Die dunklen Locken des Gerichtsmediziners sahen bei jeder Begegnung heller aus, weil sich immer mehr graue Strähnen bildeten. Unbewusst fuhr sich Schnur über seine eigenen Haare und überlegte, wann er das letzte graue Haar herausgezupft hatte.
»Weil es einen Unfall mit tödlichem Ausgang gegeben hat.«
»Werde ich jetzt zu jedem Todesfall gerufen?«
Schnur zuckte mit den Schultern. »Die Staatsanwältin hat angeordnet, dass wir uns den Fall genauer ansehen. Ich habe mich auch darüber gewundert.«
»Warum schaltet sie sich in diesen Fall überhaupt ein?«, bohrte Wolbert weiter.
»Keine Ahnung. Vielleicht, weil das Thema Bergbau von den Medien immer sensibler behandelt wird, je näher die Schließungen der Gruben heranrücken«, spekulierte Schnur.
Plötzlich erschütterte ein lautes Brummen den Platz. Alle verstummten schlagartig und schauten in die Richtung, aus der das Geräusch kam.
Ein vier Meter hoher und zwölf Meter langer LKW der Feuerwehr bog von der Hauptstraße auf das Grubengelände ein. Es war ein großer Sattelschlepper, der einen sechsachsigen Anhänger mit Hubarbeitsbühne hinter sich herzog. Langsam rollte das mächtige Fahrzeug auf den Förderturm zu. Der Mann am Steuer wurde von den Kollegen der Schutzpolizei eingewiesen, um ohne anzustoßen die engen Kurven zu umfahren.
»Als hätten sie das einstudiert«, stellte Erik fest.
Vier Hydraulikstützen fuhren an den Seiten des LKWs heraus und hoben die komplette Einheit bestehend aus Steiger und Zugeinheit an. So glichen sie alle Unebenheiten des unbefestigten Bodens aus und stabilisierten die Gesamtkonstruktion der Maschine. Dann begann der Arm des Steigers sich langsam zu bewegen. Zunächst hob sich der untere Teil an, dann folgte der Oberarm. Zum Schluss wurde der dünnere Unterarm aufgerichtet und gesichert. Eine Bühne hing an dessen Ende. Als er in Position war, stoppte die Maschine.
Der Gerichtsmediziner folgte mit blassem Gesicht den Mitarbeitern des Labors, dem Polizeifotografen und einem Feuerwehrmann. Sie bekamen Helme gereicht, die sie aufsetzten, bevor sie in den Korb stiegen.
»Hoffentlich bin ich schwindelfrei«, murmelte er.
»Wie gut, dass ich da nicht raufmuss«, stellte Schnur erleichtert fest.
Doch der Korb setzte sich nicht in Bewegung.
Alle starrten auf Schnur, der seinen Blick stoisch auf der Arbeitsbühne ruhen ließ. Es dauerte eine Weile, bis Erik seinen Vorgesetzten in die Seite rammte und anmerkte: »Es hängt alles nur noch an dir.«
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