»Verlieren Bergleute häufiger das Bewusstsein während der Arbeit?«
»Nein! Was soll diese Frage?«
»Sie stellen hier die abenteuerliche Theorie vom bewusstlosen Bergmann auf«, erwiderte Schnur. »Das klingt sehr verwegen.«
»Pitt war in letzter Zeit häufiger krank«, fuhr Remmark fort. »Aber er wollte keinen gelben Schein machen, weil das mehr Arbeit für die Kameraden bedeutet.«
»Ich werde mich von den Fakten überzeugen lassen, die die Spurensicherung und die Gerichtsmedizin herausfinden werden«, stellte Schnur klar. »Die Annahme, dass der Kollege krank war, reicht nicht, um dort oben zermalmt zwischen Stahlseil und Seilscheibe zu landen.«
Plötzlich entstand Unruhe in der Menschenmenge. Alle starrten in eine Richtung. Neugierig trat Schnur zur Seite, um sehen zu können, was diese Männer so aufbrachte.
Ihre roten Haare leuchteten unwirklich an diesem grauen Ort. Mit ihrem eleganten Gang in den hohen Schuhen, in denen sie sich trotz des unwegsamen Geländes mit einer bemerkenswerten Sicherheit bewegte, zog sie die Blicke der Bergmänner an. Mit einem Lächeln auf den Lippen, das zeigte, dass sie solche Blicke gewohnt war, stellte sie sich vor die vielen Menschen und sagte: »Mein Name ist Ann-Kathrin Reichert, ich bin die zuständige Staatsanwältin.«
»Warum kommt nicht das Bergamt?«, fragte Remmark.
»Weil die Kollegen vom Ministerium für Wirtschaft und Wissenschaft mich angerufen haben, um dem Bergamt Amtshilfe zu leisten«, stellte die Staatsanwältin klar.
Damit musste sich Remmark zufriedengeben.
»Gut, dass wir das geklärt haben. Ich bin hier, um mir zusammen mit Kriminalhauptkommissar Schnur ein Bild von dem Fall zu machen, damit wir entscheiden können, wie wir diesen Todesfall behandeln«, sprach sie weiter.
»Wie wollen Sie das beurteilen?«, meinte Remmark. »Sie wissen überhaupt nichts über die Arbeit unter Tage!«
»Sie glauben gar nicht, zu was ich fähig bin«, gab Ann-Kathrin eisig zurück.
Totenstille kehrte ein.
Schnur freute sich über diese Eröffnung.
»Dann wollen wir mal!« Mit diesen Worten wandte sich die Staatsanwältin an Schnur.
»Der Tote wurde schon abtransportiert«, sagte der Kriminalist.
»Das ging aber schnell! Wie soll ich jetzt sehen, was passiert ist?«
Ein Blick auf die schwere Hubarbeitsbühne verriet, dass das große Gerät bereits abfahrbereit war.
»Nach oben wirst du auch nicht mehr kommen«, stellte Schnur fest. Er zeigte auf den höchsten Punkt des Förderturms, von dem sie den Toten geborgen hatten.
»Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als diesen Teil der Tatortbesichtigung zu überspringen.« Ann-Kathrin zuckte mit den Schultern. »Mit dem zuständigen Bergamt habe ich alle Einzelheiten geklärt. Sie haben mir zugesagt, dass ich mit dem verantwortlichen Steiger runterfahren kann, um mir den Tatort unter Tage anzusehen.«
»Der ist davon überzeugt, dass es ein Unfall ist«, brummte Schnur. »Und er wird auch versuchen, dir das einzureden.«
»Ich kann mir schon selbst eine Meinung bilden.« Ann-Kathrin grinste verschmitzt.
»Auf keinen Fall lasse ich dich allein da runter. Ich werde dich begleiten«, ereiferte sich Schnur.
»Mein Beschützer«, schnurrte Ann-Kathrin. »Ich hatte ohnehin vor, dich mitzunehmen. Denn zufällig ist es auch deine Aufgabe, dir diesen Ort anzuschauen.«
Schnur spürte, dass er rot wurde, und blickte verlegen zu Boden, in der Hoffnung, dass es niemand bemerkte. Doch Ann-Kathrin stieß ihr kehliges Lachen aus, womit es ihr wieder gelang, sämtliche Blicke auf sich zu ziehen.
»Ich bin der zuständige Steiger.« Mit diesen Worten trat Georg Remmark vor die Staatsanwältin.
Schnur erschrak. Hatten sie so laut geredet, dass sie jeder verstehen konnte? Das behagte ihm nicht. Hinzu kam die Aussicht auf eine Fahrt in tausend Meter Tiefe, die bei ihm sofort Beklemmung auslöste. Aber das wollte er auf keinen Fall zugeben.
»Okay! Wie kommen wir in den Hades?«, fragte er.
»Hades?«, hakte Remmark nach.
»In die Grube meinte ich«, korrigierte Schnur schnell. »Soweit ich weiß, ist dieser Schacht in Velsen für die Spurensicherung gesperrt. Und wie lange unsere Leute dort arbeiten müssen, kann ich jetzt noch nicht sagen. Das könnte länger dauern.«
»Hier wären wir ohnehin nicht runtergefahren«, stellte der Steiger brummig klar. »Sie müssen die richtige Ausrüstung bekommen. So dürfen Sie nicht in die Grube. Dafür müssen wir zum Warndtschacht fahren, weil dort alles ist, was wir brauchen. Von dort fahren wir runter.«
»Sind dort die Kleiderkörbe der Bergleute?«, fragte die Staatsanwältin.
»Ja«, brummte Remmark. »Dort ist die Waschkaue.«
An Schnur gerichtet sagte Ann-Kathrin: »Du solltest einen Beamten der Spurensicherung zum Warndt schicken, damit er den Kleiderkorb des Opfers sichert.«
»Jeder hat zwei Körbe«, berichtigte Remmark.
»Warum das denn?«, fragte Schnur.
»Na, einen für die dreckige Bergmannskluft und einen für die sauberen Sachen.«
Am Warndtschacht wurden Ann-Kathrin Reichert und Jürgen Schnur mit Steigeranzug, Grubenhelm, Schutzbrille, Lampe, Filterselbstretter und Staubmaske ausgerüstet, bevor sie den Förderkorb ansteuerten. Mit zwölf Metern pro Sekunde ging es hinab zur fünften Sohle. Am Füllort angekommen öffnete Remmark die Schachttüren und ließ dem Kommissar und der Staatsanwältin den Vortritt.
Keine stickige Enge oder finstere Höhle erwartete die beiden dort. Sie sahen hohe, halbrunde Gänge voller Licht, Lärm und Bewegung. Gebogene Stahlträger verbunden mit Stahlgitternetzen über ihren Köpfen stützten die Hohlräume ab. Durch die Gitter war grobes Gestein zu sehen, das aussah, als wollte es jeden Augenblick die Halterung sprengen und auf sie herabstürzen.
Sie stiegen eine stählerne Treppe hinunter und betraten eine Plattform, auf der sich einige Männer laut schreiend verständigten. Weiterer Lärm kam von Maschinen, die die Besucher nicht sehen konnten. Rohre mit unterschiedlichen Durchmessern verliefen quer am halbrunden Gewölbe über ihnen. Darauf standen schwarze, mit Wasser gefüllte Plastikwannen in der Größe von Wäschekörben, auf die Ann-Kathrin fragend wies. Remmark brummte etwas von Explosionsschutz, ohne sein Tempo zu verringern. In den Betonboden waren Schienen eingelassen, auf die sie achten mussten, um nicht zu stolpern. Einige Meter weiter wartete am Bahnhof ein Personenzug. Remmark wies die beiden an einzusteigen.
Schnur spürte Beklemmung. Der Waggon war eng und ohne Fenster. Er schaute auf Ann-Kathrin, doch die Staatsanwältin wirkte unbekümmert wie immer. Er gab sich einen Ruck und kletterte in die Kabine.
Nach einer knappen halben Stunde holpriger Fahrt durch stickige warme Luft und Wetterschleusen, vorbei an lärmenden Maschinen, hatten sie ihr Ziel erreicht. Schnurs Hände waren feucht. Zum Glück konnte das niemand sehen. Es wäre ihm peinlich zuzugeben, dass er mit Klaustrophobie zu kämpfen hatte.
Sie stiegen aus. Remmark ging voraus, zeigte auf einen Stollen zu seiner Linken und brummte: »Durch diesen Querschlag müssen wir gehen, dann kommen wir in den Streb, in dem meine Partie zurzeit arbeitet.«
Einige Minuten schritten sie schweigend durch den dunklen Querschlag. Die Lampen an ihren Helmen sorgten für ständig hin und her springende Lichtkegel. Und doch konnte Schnur in einiger Entfernung eine weitere Bahn erkennen. Dort waren die Waggons offen.
»Das ist die Kulibahn«, erklärte Remmark, als er Schnurs Blick bemerkte. »Damit fahren wird bis zur oberen Ecke des Strebes. Dort müssen Sie dann die Staubmasken anziehen, die ich Ihnen mitgegeben habe.«
Die Kulibahn war so schmal, dass sie für die Fahrt hintereinander sitzen mussten. Remmark übernahm den vorderen Platz und Schnur überließ der Staatsanwältin die Mitte. Der Gang, in den sie hineinfuhren, war noch enger und dunkler als der bisherige Weg. Die Temperaturen stiegen an, bis es stickig und heiß wurde. Irgendwann wurde es wieder heller und gleichzeitig auch lauter.
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