1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Tremantes Anblick ließ Bonhoff an die Bergung der menschlichen Überreste zwischen Stahlseil und Seilscheibe denken. Normalerweise lenkte ihn die Arbeit ab. Aber heute war das unmöglich, weil gerade er fast täglich an Demplers Seite gewesen war.
Tremante, den alle unter Tage »Amore« nannten, war ein ewiger Spaßvogel, der sogar mit der Lampe an seinem Helm versuchte, durch Zeichen Späße zu machen. Bonhoff ignoriere seine Grimassen. Im Grunde genommen konnte er noch nie über »Amores« Späße lachen. Und heute schon gar nicht.
Mit lautem Getöse fielen die herausgeschnittenen Kohlebrocken auf den Panzerförderer, dessen starke Doppelketten sich unaufhaltsam bewegten. So beförderten sie die Kohle in die Fußstrecke am unteren Ende des Strebs, wo sie auf den Fußstreckenpanzer herabfiel, der sie mit ständig bewegenden schweren Ketten weiter transportierte.
Bonhoff konzentrierte sich auf die große Maschine, die mit brachialer Gewalt die Meissel ihrer Walzen in die Kohlewand hineinstieß. Ein Teil des schwarzen Staubs wurde mit Wasserdüsen, die am Walzenschrämlader angebracht waren, gebunden und nach unten gezogen. Von der Kopfstrecke aus sorgten Bewetterungsrohre für Frischluftzufuhr.
Die Zeit wollte an diesem Tag nicht vergehen. Die Männer arbeiteten mechanisch. Sie alle waren gut ausgebildet, sodass jeder die Aufgabe eines anderen übernehmen konnte. Das brachte Bonhof auf den Gedanken, dass sie alle entbehrlich waren. Kein schöner Gedanke.
Störung am Bandstreckenpanzer!
Durch den Strebfunk konnten die Männer deutlich hören, wie die Grubenwarte bekanntgab, dass die Förderung bis auf Weiteres stehen bleiben sollte. Für diesen Tag war die Schicht beendet.
Bonhoff sah, wie sich Tremante dem Steiger Remmark anschloss. Die beiden Männer verließen mit schnellen Schritten den Streb in Richtung Fußstrecke, sodass Bonhoff keine Chance hatte, ihnen zu folgen.
Er wartete eine Weile. Doch nichts geschah. Er blieb allein. Das Gefühl, nicht wirklich zu dieser Gemeinschaft zu gehören, hatte er schon lange. Immer wieder beobachtete er, wie sich die Jungs aus seiner Partie zusammenschlossen und diskutierten, ihn aber nicht daran teilhaben ließen.
Bisher hatte ihm jedoch die Gewissheit genügt, dass er auf die anderen zählen konnte, wenn man in eine gefährliche Situation geriet. Auf diese Loyalität hatte er sich noch immer verlassen können.
Bis jetzt.
Mit mulmigem Gefühl folgte er den Männern aus seiner Gruppe. Er schlängelte sich durch das enge Fahrfeld an der Schrämmaschine vorbei zur Fußstrecke, um von dort auf die Hauptstrecke der sechsten Sohle zu gelangen. Als er in den Querschlag einbog, konnte er gerade noch sehen, wie die Kameraden im Zugang zum Bandberg II verschwanden. Das bedeutete, dass sie zur fünften Sohle fuhren, dorthin, wo Dempler verunglückt war.
Ohne zu überlegen sprang er ebenfalls auf das Band, das in hohem Tempo durch den finsteren Tunnel fuhr. Seine Kopflampe hatte er schon vorher ausgemacht, um nicht bemerkt zu werden. Oben angekommen schwang er sich an eine der Ketten, mit denen die Bandkonstruktion am Ausbau befestigt war. Die Kopflampen seiner Arbeitskollegen konnte er schon von Weitem sehen.
Sie standen neben dem Bandantrieb an der Bandwendeanlage. Eine Lampe hing direkt über ihnen, was es ihm leichter machte, die Bewegungen und Gesten seiner Kameraden zu sehen. Nur konnte er kein Wort verstehen. Am Abwurf fielen die Kohlenbrocken mit lautem Getöse in den Trichter und von da auf das nächste Band Richtung Warndt. Das einzige, was Bonhoff wahrnehmen konnte, war die große Aufregung, die unter den Männern herrschte.
Nur wusste er nicht so genau, was diese Aufregung ausgelöst hatte. Trauer? Das konnte sich Bonhoff nicht vorstellen. So dick war niemand mit Dempler befreundet gewesen. Also was erregte die Männer wirklich?
Plötzlich spürte er eine Hand an seiner Schulter. Erschrocken drehte er sich um.
Hans Rach grinste ihn an. Bonhoff erschrak. Ihn hatte er vergessen.
»Na, Mimose « , meinte er grinsend, womit er Bonhoff schon gleich dort hatte, wo er ihn haben wollte. Er hasste diesen Spitznamen.
»Du musst uns nicht nachspionieren. Stell dich dazu!«
Das Grinsen im Gesicht des Kollegen wirkte hämisch.
Bonhoff schaute sich um und sah mit klopfendem Herzen, wie sich ihm auch die anderen Kameraden näherten.
Sollte er jetzt erfahren, was mit Peter Dempler wirklich passiert war?
*
Erik Tenes saß an seinem Schreibtisch und starrte auf den Kalender. Nur noch zwei Tage und die Kollegin Anke Deister würde aus ihrer Mutter-Kind-Kur zurückkommen. Er konnte ihre Rückkehr kaum noch erwarten. Sie hatten in den letzten sechs Wochen nur wenig miteinander telefoniert. Und wenn er sie endlich mal erreicht hatte, war Ankes Tochter Lisa die Hauptperson und musste Erik immer alles bis ins Detail berichten. Erik freute sich über die wiedergewonnene Lebensfreude dieses Kindes. In letzter Zeit war Lisa schwermütig geworden. Ankes Einsatz im Ausland hatte dazu beigetragen. Sie hatte ebenfalls unter der Verschlossenheit ihrer Tochter gelitten. Vermutlich war ihr deshalb diese Kur so wichtig worden – um das Verhältnis zwischen Mutter und Kind wieder zu verbessern. Und nach dem Geplapper der Kleinen zu urteilen, war ihr das gelungen.
Nach Ankes Rückkehr aus dem Ausland waren sie sich näher gekommen. Es fühlte sich aber immer noch sehr zerbrechlich an. Anke wirkte verletzt und versuchte wieder Vertrauen in einen anderen Menschen aufzubauen. Erik wusste, dass sie bisher mit Männern kein Glück gehabt hatte. Vermutlich hatte er ihr zu viel über seine eigenen Verfehlungen erzählt und damit ihre Annäherung auf eine harte Probe gestellt. Er schüttelte über sich selbst den Kopf.
Plötzlich ging die Tür auf und sein Vorgesetzter Jürgen Schnur spähte ins Zimmer.
»Träumst du?«, fragte er.
Erik schaute überrascht auf den Dienststellenleiter. Als er nichts sagte, fügte Schnur an: »Wir haben Dienstbesprechung! Schon vergessen?«
Die hatte Erik tatsächlich vergessen.
»Ich komme«, murrte er. Zu gerne hätte er noch einige Minuten weiter an Anke gedacht. Er folgte Schnur in dessen Büro.
Dort saßen bereits alle beisammen und grinsten ihn an. Rasch schnappte er sich einen Stuhl und setzte sich, damit er die Blicke mit seiner Größe von einsfünfundneunzig nicht noch länger auf sich zog. Die Verspätung war ihm auch so schon peinlich genug.
»Wir haben die ersten Ergebnisse der Spurensicherung«, begann Schnur, als endlich Ruhe in dem Büro herrschte. Dabei schaute er angestrengt auf einen Bericht, als hätte er Mühe, die Buchstaben darauf zu entziffern.
»Aber sonst alles klar?«, fragte Erik mit einem süffisanten Grinsen in die Stille.
»Wer lesen kann, ist klar im Vorteil«, fügte Andrea an.
Nun lachten alle laut.
Schnur wollte eine ernste Miene auflegen, doch das gelang ihm nicht. Zuerst verzog er nur leicht seine Lippen, bis er in das Gelächter einstimmte.
»Ich lese hier einen Namen, den ich nicht zuordnen kann.«
»Welchen Namen?«
»Robert Ollig«, antwortete Schnur. »Wer ist das?«
»Das ist der neue Teamchef der Spurensicherung«, erklärte Andrea. »Er hat die Nachfolge von Theo Barthels angetreten.«
Schnur rieb sich über sein Kinn und meinte: »Schön, dass ich das auch mal erfahre.«
»Theo wird erst zum Monatsende offiziell verabschiedet.«
Schnur nickte und begann, über die Ergebnisse zu sprechen: »Der Tote ist eindeutig als Peter Dempler identifiziert worden.« Er schaute in die Runde und fügte an: »Jetzt stehe ich vor dem Problem, wer dafür zuständig ist, die Witwe zu informieren.«
»Todesnachrichten werden in solchen Fällen von Vertretern des Betriebsrats überbracht«, meldete sich Anton Grewe zu Wort.
»Gut zu wissen«, bekannte Schnur. »Dann müssen wir uns nicht darum kümmern.«
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