1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Ja, Jules spürte an diesem Sonntagmorgen, hoch über dem Städtchen Morges, ein wenig vom Geist dieses chinesischen Pioniers. Mit jedem Schritt, jedem neuerlichen Ausgleiten und Auffangen fühlte er sich dem Wesen des Eunuchen ein kleines Stückchen näher verbunden. Er war bestimmt ein Machtmensch gewesen, dieser Zheng He, vielleicht sogar skrupellos bis hin zu gewissenloser Menschenverachtung. Doch ebenso sicher musste er auch Poet und Träumer gewesen sein. Denn nur schöpferische Menschen sind zu wirklich großen Taten befähigt.
Als Jules auf der Hügelspitze ankam, hatten sich die letzten Nebelfetzen über dem Genfersee aufgelöst und das Wasser begann in der kalten, klaren Luft verführerisch zu glitzern. Jules stellte sich einen Moment lang vor, wie Zheng He vor vielen Jahrhunderten vielleicht selbst auch auf einem solchen Hügel stand und stolz auf seine Werftanlagen hinunterschaute, sich ein Meer von Schiffen betrachtete, die auf sein Geheiß hin gebaut worden waren, eine riesige Schatzflotte, die fast dreißigtausend Menschen befördern sollte und die er für Entdeckungen und Eroberungen gleichermaßen einsetzen konnte.
Plötzlich erfasste den Schweizer ein starkes Fernweh, einen inneren Drang, für sich selbst die Welt neu zu entdecken und zu erobern. Dieses Gefühl entsprang zuerst in seiner Bauchhöhle, breitete sich dann jedoch rasend schnell aus und stieg hoch. Jules atmete tief ein. Sein Brustkorb weitete sich, so als müsste er unsichtbare Fesseln sprengen, die ihn bislang einschnürten. Befreit stieß er die Luft aus, spürte gleichzeitig, wie sich in seinem Hals ein Kloß bildete, der wie ein Korken auf den Gefühlen in seiner Brust saß, sie nicht weiter hochsteigen ließ. Jules schluckte mühsam und trocken und auf einmal war dieser Druck weg, wurde abgelöst von einem warmen, weichen Strom, der sich langsam bis zu seinem Gehirn hoch ausbreitete. Ein unglaubliches Glücksgefühl überkam den Schweizer, verlieh ihm Ruhe und Zuversicht für seine kommenden Aufgaben im Projekt 32.
War es dem großen chinesischen Seefahrer vor sechshundert Jahren beim Anblick seiner Flotte vielleicht ebenso ergangen? Hatte auch er große Zweifel zu bekämpfen und seine ganze Kraft erst bündeln müssen?
Nur achtunddreißig von uns Knaben hatten die brutale Kastration überlebt, nicht einmal jeder zehnte, wie wir von unseren Wärtern erfuhren. Zwei Tage ließ man uns im Freien auf dem Strohbett liegen, danach wurden wir wieder in einen der Kellerräume ohne Licht gesperrt. Wir bekamen regelmäßig zu Essen und zu Trinken und auch unsere Wunden versorgte man ein paar Mal. Bei mir hatte sich rasch eine dicke, braunrote Kruste gebildet und wenn ich herumging, dann rieben ihre Ränder manchmal unangenehm an der Innenseite meiner Schenkel. Das Wasserlassen bereitete uns am Anfang große Schmerzen und wir mussten uns dazu wie Mädchen hinhocken, damit uns der Urin nicht an den Beinen hinunterlief. Trotzdem spritzten wir uns immer wieder die Knöchel und Fußrücken voll, denn wir hatten noch längst nicht gelernt, den Druck unserer Blase so zu kontrollieren, dass ein regelmäßiger, nicht allzu starker Strahl entstand.
Es war ein etwas nebliger Morgen, als sie uns wieder aus unserem Gefängnis und auf den Hof hinaufführten. Mitten auf dem Platz stand eine prachtvolle Sänfte, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie war riesig, purpurn bemalt und mit silbern glänzenden Beschlägen verziert. Ein großer Mann saß davor auf einem Schemel. Er trug einen mächtigen, schwarzen Bart und war ganz in Seide gekleidet. Ich kannte diesen wertvollen Stoff, weil mein Vater einmal meiner Mutter ein Kleid aus der Hauptstadt mitgebracht hatte, das in allen Farben schillerte. Lange Zeit betrachtete sie damals das so kostbare Geschenk, voller Ehrfurcht und es dauerte einige Tage, bevor sie sich getraute, es zur Probe anzuziehen. Getragen hatte sie es dann ein einziges Mal, auf dem großen Fest am Hof von Prinz Basalawarmi. Ich konnte damals einige der Gäste belauschen, wie sie untereinander tuschelten und meinten, meine Mutter wäre eine der schönsten und vornehmsten Damen an diesem Nachmittag. Selbst der Prinz hatte ihr huldvoll zugelächelt und kurz genickt, so beeindruckt war er von der Schönheit meiner Mutter in ihrem Kleid.
Das Haar des mächtigen Mannes, der vor seiner Sänfte saß, war im Gegensatz zu seinem Bart bereits angegraut. Doch er trug es sehr lang, wild und stolz, hatte es hinten zu einem Zopf zusammengebunden, der bis zwischen seine Schulterblätter reichte. Überhaupt zeigte sein gebieterisch erhobener Kopf mit dem energisch nach vorne gestreckten, breiten Kinn einen Stolz, der nicht etwa auf seiner Geburt beruhte, sondern einzig auf seinen Taten.
Es musste ein bedeutender Herr sein, vielleicht ein General oder ein hoher kaiserlicher Beamte, denn eine große Anzahl von Soldaten waren im Hof verteilt, umringten die Sänfte in einem weiten Bogen. Die Bewaffneten hatten ihr rechtes Bein etwas nach vorne geschoben und ihre Hand an den Schwertgriff gelegt. Sie sahen wie zum Sprung bereit aus, als wenn sie im nächsten Moment blankziehen wollten, um sich mit aller Kraft auf einen Feind zu stürzen und so ihren Vorgesetzten zu beschützen.
Ein paar der Soldaten hielten statt dem Schwertgriff eine lange Holzstange fest. An diesen pendelten rote oder gelbe Banner im aufgekommenen Wind hin und her. Ich konnte Chinesisch recht gut lesen und auch schreiben und so erkannte ich auf den Feldzeichen viele Tiernamen. Es gab die Flinken Eidechsen, die Roten Panther und gleich daneben die Goldene Speerspitze.
Wir Knaben mussten uns in eine Reihe stellen. Dann wurden wir einzeln zu dem sitzenden Mann hingeführt. Der sprach mit jedem ein paar Worte. Danach wurden die allermeisten nach links in eine Ecke des Hofes getrieben, einige wenige jedoch nach rechts hinübergeführt, zu einem Mann, der sich ein Brett vor seinen Bauch geklemmt hatte und eifrig darauf schrieb.
Ich nahm mir vor, mutig und stolz vor diesen mächtigen Herrn zu treten, genauso, wie ich es bei meiner Mutter gesehen hatte, vor einigen Wochen im Hof unseres Hauses, als sie vor den Anführer der chinesischen Soldaten trat. Doch als ich schließlich an die Reihe kam und zu ihm hingeführt wurde und seine funkelnden Augen von ganz Nahem sah, den mächtigen schwarzen Bart, seine breite Nase mit den weiten Nüstern und dem grausamen Mund darunter, begann ich vor Furcht zu zittern.
»Steh still, Junge«, herrschte er mich grollend an, so dass ich heftig zusammenzuckte, dann aber völlig erstarrte und kaum mehr zu atmen wagte.
»Sag mir, wie viel sind zwölf multipliziert mit achtzehn.«
»Zweihundert sechzehn«, antwortete ich, ohne nachzudenken, denn meine Eltern hatten uns Kindern schon sehr früh das Kopfrechnen beigebracht und mich auch fleißig jeden Tag üben lassen.
»Und wie viel sind vierzehn mal einhundert zwölf?«
»Eintausend fünfhundert achtundsechzig.«
Ich fühlte mich auf einmal sicherer, denn ich sah, wie wohlgefällig der fremde Herr meine Antworten aufnahm. Sein zuvor mürrischer Mund zuckte und zeigte nun beinahe schon ein Lächeln.
»Erstaunlich«, meinte er knapp und fügte in einem versöhnlichen Ton hinzu, »wie heißt du, Junge?«
Nun regte sich mein Stolz plötzlich wieder in mir und ich sprach endlich mit derselben festen Stimme, wie seinerzeit meine Mutter: »Ich heiße Ma He. Ich bin der Sohn von Ma Hajji aus Kunyang.«
»Du bist der Sohn von Ma Hajji aus Kunyang?«, fragte mich der Mann überrascht, worauf ich meinerseits die Augen vor Erstaunen aufriss.
»Kennen Sie etwa meinen Vater?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Ja, ich kannte ihn«, sprach er hart, nachdem er mich eine Sekunde lang gemustert hatte, »doch er ist wie die meisten Anhänger von Prinz Basalawarmi gleich während der ersten Schlacht umgekommen.«
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