»In Ordnung, Jules, ich werde Ihr Sponsor sein. Im Gegenzug erwarte ich allerdings völlige Offenheit von Ihnen über das Vorgehen und den jeweiligen Projektstand.«
Jules nickte zustimmend.
»Ich danke Ihnen, Benedict, und es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, dass Sie als Sponsor jederzeit über sämtliche Vorgänge im Projekt von mir persönlich informiert werden.«
Jules hatte die erste Schlacht endgültig gewonnen und entsprechend entspannt fuhr er fort.
»Nun habe ich Sie aber schon viel zu lange mit kleinlichen Organisationsfragen gelangweilt. Kommen wir also zum derzeitigen Projektstand.«
Er blieb nun hinter seinem Stuhl stehen und stützt seine Hände auf die Rückenlehne. Damit markierte er gleichzeitig Festigkeit und Sicherheit, zwei wesentliche Voraussetzungen, um Vertrauen zu gewinnen. Denn Vertrauen schaffen , das war sein zweites und eigentliches Ziel für diese erste Sitzung mit dem Projektausschuss.
»Im Gegensatz zu den manipulierten Unterlagen, die Sie von John erhalten haben, waren wir in den vergangenen drei Monaten alles anderes als untätig. Ich sage wir , denn unser Projektbüro besteht derzeit aus der Leiterin, eine ausgewiesene Fachfrau in Sachen Rechnungswesen und Organisation, und einem technikbegeisterten jungen Mann, der für uns im Internet eine elektronische Plattform für den gegenseitigen Datenaustausch aufgebaut hat.«
Jules hatte nun seine echte Präsentation auf dem Laptop gestartet und der Projektor warf die ersten Bilder an die Wand. Sie würden seine Worte mit einigen Grafiken unterstreichen, waren jedoch alles andere als selbsterklärend, zeigten Bilder aber kaum Text, würden also seine Worte bloß unterstützen und nicht etwa ersetzen. Denn der gewichtigste Fehler vieler Präsentationen vor einem Publikum lag darin, zu viele Informationen auf eine einzige Folie zu packen und damit die Aufmerksamkeit der Zuhörer zwischen dem Vortragenden und den toten Bildern an der Wand zu teilen. Sprachen die Folien dagegen nicht für sich selbst, sondern mussten erklärt werden, dann hingen die Ohren und die Augen der Anwesenden ausschließlich am Präsentator.
»In den nächsten Tagen versenden wir ein Schreiben an unsere über siebentausend Logen in Großbritannien. Darin werden alle dreihunderttausend Logenmitglieder über die Datenplattform von Projekt 32 in Kenntnis gesetzt. Wir wollen nämlich in einem ersten Schritt sämtliches Wissen und vor allem auch alle Vermutungen über das Leben und Wirken von Zheng He aufspüren und in unserer Datenbanken sammeln. Ich erhoffe mir davon Tausende von Anregungen für unsere Expertenteams, auf die ich gleich zu sprechen komme.«
Jules erkannte bei seinen forschen Worten, dass ihm die Mitglieder des Ausschusses nicht nur interessiert zuhörten, sondern von seinem Elan bereits ein wenig mitgerissen wurden. Denn dass sich alle Mitglieder Großbritanniens in das Dekadenprojekt mit einbringen konnten, schuf eine neue Qualität für die gesamte Freimaurer-Bewegung. So saßen sie mit gestrafftem Oberkörper vor dem Schweizer und sahen ihm offen und erfreut in die Augen. Nur John Brown hockte griesgrämig auf seinem Stuhl und blickte ihn finster an. Jules lächelte ihm darum aufmunternd zu, bevor er weiterfuhr.
»Ich hab mich selbstverständlich gefragt, wie man ein solch großes, wissenschaftliches Projekt aufsetzen muss, um Erfolge zu erzielen. Wie Sie wissen, sind die Unterlagen zu den sieben Schatzfahrten von Zheng He verloren gegangen, wahrscheinlich sogar gezielt von späteren chinesischen Kaisern vernichtet worden. Überhaupt war es im alten China etwas völlig Normales, die Geschichtsschreibung nach eigenem Gutdünken zu verändern. Ich erinnere daran, dass Kaiser Yung-Lo die drei Jahre dauernde Regierungszeit seines von ihm im Jahre 1402 gestürzten Neffen in der offiziellen Geschichtsschreibung der Ming Dynastie einfach streichen ließ, so als hätte sein 1398 verstorbener Vater das Land bis zur Machtergreifung von Yung-Lo im Jahre 1402 geführt.«
Das Interesse des Direktoriums begann über diesen geschichtlichen Exkurs bereits ein wenig einzuschlafen, was Jules nicht erstaunte und weshalb er rasch fortfuhr.
»Die heutige, offizielle chinesische Geschichte wurde erst ab 1648, also mehr als zweihundert Jahre nach der letzten der sieben Schatzfahrten, systematisch erforscht und im Ming Shi niedergeschrieben. Doch in diesem Werk sind die beiden Steintafeln nicht einmal erwähnt, die Zheng He im Jahre 1431 in Liunjian und in Changle aufstellen ließ und auf denen die sieben Fahrten in den Westen recht detailliert beschrieben sind. Wir müssen also davon ausgehen, dass diese Tafeln den damaligen Historikern unbekannt waren. Dementsprechend können wir unsere Arbeit also kaum auf die Daten im Ming Shi abstützen. Anders ist aus meiner Sicht auch kaum zu erklären, warum das Grab von Zheng He bis heute nicht gefunden wurde, obwohl die chinesische Regierung in den 1970er und 1980er Jahre intensiv nach ihm suchen ließ.«
Der Vorsitzende des Ausschusses unterbrach Jules etwas unwirsch: »Viele der von Ihnen geschilderten Fakten sind uns hinlänglich bekannt, Bruder Jules. Sie interessieren uns auch nur am Rande. Für uns Ausschussmitglieder ist es weit wichtiger, zu erfahren, wie Sie an die Aufgabe heranzugehen gedenken.«
Er sprach den kleinen Tadel allerdings recht wohlwollend aus. Denn dass sich ihr gewählter Projektleiter bereits intensiv in die Materie eingearbeitet hatte und dabei wohl Feuer fing, ließ Sir Geoffrey sich gerne gefallen. Und exakt dieser Eindruck sollte die etwas umständlichen, langatmigen und vor allem wenig nützlichen Erklärungen von Jules bewirken. Denn nur wenn ein Ausschuss spürte, wie stark sich ihr Projektleiter mit der Aufgabe identifizierte, konnte sich wirkliches Vertrauen zwischen ihnen aufbauen. Jules nickte dem Vorsitzenden darum zweifach dankbar zu.
»Wir sammeln als erstes alle in China vorhandenen historischen Basisdaten. Dies erledigt ein Team aus drei chinesischen Historikern, wobei Professor Hei Li aus Shanghai den Vorsitz hält. Ein zweites Team informiert sich parallel dazu über alle Forschungsergebnisse neueren Datums. Außerhalb von China und wirft auch einen Blick auf all die oft skurrilen Spekulationen, die sich um die sieben Reisen der Flotte bis heute entwickelt haben. Es gibt ja Forscher, die vermuten, die Flotte von Zheng He könnte den gesamten Erdball umrundet haben. Gerade in diesem spekulativen Bereich hoffen wir auf viele Informationen von unseren dreihunderttausend Mitgliedern in Großbritannien. Gut möglich, dass der eine oder andere uns einen völlig neuen Blickwinkel zu öffnen vermag.«
Sir Benedict Reiffle, der neue Projektsponsor, meldete sich zu Wort: »Jules, das ist aber noch nicht sehr viel, ich meine, zwei kleine Projektteams, die ein paar Daten sammeln. Wie soll es Ihrer Meinung nach anschließend weitergehen? Haben Sie darüber bereits konkrete Vorstellungen?«
Jules musste ohne es zu wollen breit grinsen. Man traf in Projekten doch immer wieder dieselbe Entwicklung an. So lange jemand bloß als Mitglied in einem größeren Gremium saß und sich dort informieren ließ, hielt sich sein Interesse in engen Grenzen. Doch, sobald derselbe Mensch eine direkte Mitverantwortung für das Gelingen des Vorhabens übernahm, begann er sich sogleich Sorgen über das Gelingen zu machen. Und sich sorgen hatte noch keinem Projekt geschadet, wie Jules aus Erfahrung wusste.
»Die geschichtlich gesicherten Quellen werden uns kaum den wahren Umfang der Reisen von Zheng He offenbaren. Auch können wir so seine Grabstätte nicht finden, sonst wäre sie wohl längst entdeckt worden. Gleichzeitig nutzen uns aber auch die vielen Spekulationen zu seinem Leben und Tod herzlich wenig. Denn sie dürften äußerst vielschichtig und vor allem sehr weitläufig und breit ausfallen. Um letztendlich Erfolge zu erzielen, müssen wir dennoch allen Möglichkeiten nachgehen, selbst wenn sie auf den ersten Blick völlig unwahrscheinlich klingen. Ich rechne damit, dass wir die beiden kleinen Projektteams bereits in sechs bis zwölf Monaten auflösen können, wenn die ersten Basisarbeiten abgeschlossen sind. Wir ersetzten sie durch fünf neue, um die unterschiedlichen Forschungsbereiche kompetent abzudecken. Folgende Themenkreise sind angedacht: Die Seefahrt in China und in Europa zwischen dem zwölften und sechzehnten Jahrhundert. Seltsame Funde an Flora und Fauna vom vierzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert aus Sicht der Europäer. Die Entwicklung der Kartografie und der Navigation von 1300 bis 1500. Die Religionen und Philosophien im alten China des fünfzehnten Jahrhunderts. Und nicht zu vergessen die Psychologie.«
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