Das Hin- und Hergehen erfüllte für Jules jedoch einen sehr wichtigen Zweck. Denn die Anwesenden blickten ihm unweigerlich nach, drehten ihre Köpfe von links nach rechts und wieder zurück, warteten immer ungeduldiger auf seine ersten Worte. Doch Jules hatte sie auf diese Weise in die Rolle der Geführten gedrängt und die Mitglieder des Ausschusses marschierten hinter ihm her, wie Schafe hinter dem Leithammel. Das war zwar eine kleine, jedoch sehr nützliche List für jeden, der sich einer feindlich gesinnten Gruppe von Leuten gegenüberstand und sich gegen sie durchsetzen musste.
»Sehr verehrte Brüder. Bei meiner Wahl vor drei Monaten hatte sich meine Begeisterung für das Projekt 32 in engen Grenzen gehalten und ich hätte am liebsten unverzüglich abgelehnt.«
Die Minen der Anwesenden versteinerten sich bei dieser unerwarteten Einleitung und die Augen des Vorsitzenden blitzten ein erstes Mal gefährlich auf. Sir Geoffrey war es gewohnt, dass sich ihm gegenüber alle Menschen opportunistisch verhielten. Er bevorzugte in seinem Umfeld Leute ohne eigene Meinung. Sie mussten seine Weisungen und Aufträge ohne Widerspruch umsetzten und sollten Nichts in Frage stellen.
Jules fuhr fort, in einem an Schärfe noch gewinnenden Tonfall.
»Doch meine Zurückhaltung betraf weniger die eigentliche Aufgabe, sondern das Umfeld, in dem ich sie zu erledigen habe.«
Nun blickten ihn auch alle anderen Mitglieder des Ausschusses zornig an. Sie bezogen seine unverhohlene Schelte auf sich selbst. Als Aufsichtsorgan über das Projekt der Loge fühlten sie sich jedoch mitverantwortlich und den Angriff von Jules empfanden sie darum als ausgesprochen frech. Doch der Schweizer schien nichts vom Ärger zu spüren, als er unbeirrt fortfuhr.
»Ich habe in den vergangenen Wochen die verfügbaren Akten zu den letzten zehn Dekadenprojekten etwas genauer unter die Lupe genommen, vor allem die wenig erfolgreichen, beziehungsweise die kläglich gescheiterten. Dabei ist mir eines aufgefallen. In den meisten Fällen standen sehr fähige Männer an deren Spitze und sie fällten auch die richtigen Entscheide bezüglich der Organisation, den hinzugezogenen Fachleuten oder der Vorgehensweise. Trotzdem gelang keinem von ihnen eine konsequente Umsetzung seiner Pläne und Vorgaben. Warum dies so war, konnte ich eine ganze Zeit lang nicht herausfinden. Doch unser Grand Secretary John hat mich vor ein paar Wochen glücklicherweise darauf gestoßen.«
Die Köpfe der Ausschussmitglieder ruckten bei diesen Worten unwillkürlich und mit fragendem Blick zu John Brown hinüber, der nun etwas verunsichert auf seinem Stuhl herumrutschte und unwissend, stumm und bedauernd seine Schultern kurz hob.
»Wie meinen Sie das, Jules?«, fragte darum der Vorsitzende Sir Geoffrey misstrauisch, aber durchaus auch interessiert.
»John hat mir unmissverständlich erklärt, dass der Grand Secretary der Loge in diesen Dekadenprojekten ein gewichtiges Wort mitreden will, vielleicht sogar die alles entscheidende Rolle zu spielen beabsichtigt.«
Jules kniff bei diesem Satz sein rechtes Augenlid zu und blinzelte John Brown beinahe anzüglich zu.
»Ich habe darum die gesamte Projektkorrespondenz durchgearbeitet und rasch herausgefunden, dass den Projektleitern oft genug Steine in den Weg gelegt wurden, wenn sie nicht auf Forderungen und Vorschläge des Grand-Secretary hören wollten. In vielen Dekadenprojekten fanden richtige Machtkämpfe statt, die dem Gelingen der Unternehmungen höchst abträglich waren.«
Jules machte bewusst eine kurze Pause, damit die Mitglieder des Ausschusses Zeit bekamen, seine Worte richtig einzuordnen und vor allem zu erkennen, dass Jules sie mit dieser Klarstellung völlig aus der Schusslinie seiner Kritik genommen hatte. Sein Angriff hatte also keineswegs auf sie im Ausschuss, sondern bloß auf den Sekretär gezielt.
Denn die wirklichen Entscheidungsträger in einem Projekt sollten sich möglichst unbelastet fühlen. Nur dann hörten sie ihrem Projektleiter auch unvoreingenommen zu und unterstützten ihn bei Bedarf. Spürten sie dagegen eine große Mitverantwortung oder gar eine Mitschuld bei Schwierigkeiten, dann verweigerten sie erfahrungsgemäß beides.
Doch nach jedem Angriff zog man sich vernünftigerweise etwas zurück, um Platz für Kompromisse zu schaffen. Und so fuhr Jules Lederer in seinen Ausführungen fort.
»John Brown ist erst seit gut zwei Jahren unser Grand Secretary und er kann darum mit dem Scheitern der letzten Dekadenaufgaben rein gar nichts zu tun haben. Ihn trifft meiner Meinung nach also keinerlei Schuld an den wenig befriedigenden Ergebnissen von Projekt 31 und seinen Vorgängern. Umso erstaunter war ich allerdings, als ich bei einem Treffen mit ihm, das war vor vier Wochen, feststellen musste, dass auch er beabsichtigt, ähnlich wie seine Vorgänger, starken Einfluss auf das neue Projekt und die Art seiner Führung zu nehmen.«
Jules Stimme hatte einen festen, ja harten Klang angenommen, um den Anwesenden seine innere Wut über das Vorgefallene deutlich spüren zu lassen, ohne dass er auf Einzelheiten eingehen musste. Damit wollte der Schweizer vor allem ein Gefühl der Solidarität zwischen ihm und den Mitgliedern des Ausschusses erzeugen.
»Aus diesem Grund habe ich vor einigen Tagen dem Grand Secretary unter der Bedingung der absoluten Verschwiegenheit einige falsche Informationen über den Stand des Projekts übergeben. Ich bat ihn ausdrücklich darum, die Unterlagen streng vertraulich zu behandeln. Doch schon beim Eintreten in diesen Saal hier konnte ich in Ihren miesepetrigen Gesichtern lesen, meine verehrten Logenbrüder, dass Sie von unserem lieben John bereits ausführlich über meine so offenkundige Unfähigkeit informiert wurden.«
Wieder ruckten die Köpfe der Ausschussmitglieder zum Grand Secretary hinüber, diesmal jedoch mit einem meist wütenden oder höchst erstaunten Ausdruck darin. John Brown lief unter den Blicken und der eigenen aufkeimenden inneren Wut rot an. Jules fuhr jedoch unbeirrt weiter.
»Ich bin der gewählte Leiter für das aktuelle Dekadenprojekt. Eine große Mehrheit der Meister unserer Vollversammlung hat mir ihr Vertrauen ausgesprochen. Und so fordere ich heute auch Ihr Vertrauen ein, verehrte Brüder. Ich bin einzig Ihnen gegenüber verantwortlich, niemand anderem. John Brown mag ein äußerst fähiger Secretary für unsere United Grand Lodge sein. Doch er ist nicht der gewählte Leiter von Projekt 32. Darum möchte ich hier und heute und für alle Zeiten folgendes klarstellen. Ich werde dem Grand Secretary über jeden ausgegebenen Penny genauestens Bericht erstatten. Er wird jegliche Informationen zu den Einnahmen und Ausgaben dieses Unternehmens erhalten. Doch ich werde ihm niemals gestatten, Einfluss auf das Projekt selbst zu nehmen, sei es bezüglich Organisation, dem geplanten Vorgehen oder der Auswahl der Teammitglieder. Alles, was über die Freigabe und Überwachung der reservierten Gelder hinausgeht, ist Gegenstand von Verhandlungen zwischen Ihnen, liebe Logenbrüder und mir, Ihrem Projektleiter. Habe ich dafür Ihre uneingeschränkte Zustimmung?«
Die Mitglieder des Ausschusses blickten sich kurz gegenseitig an, hielten stumm Zwiesprache, dann nickte der Vorsitzende zustimmend.
»Im Weiteren benötige ich einen direkten Draht zu diesem Ausschuss, einen engen Vertrauten, der heikle Anträge ins Gremium hineinträgt und dort in meinem Namen vertritt. Ich würde mich sehr geehrt fühlen, wenn Sie, Sir Benedict, das Sponsoring für das aktuelle Dekadenprojekt übernehmen könnten?«
Der Angesprochene sah Jules amüsiert an. Er hatte längst verstanden, was ihr neuer Projektleiter erreichen wollte, nämlich das völlige Ausschalten des Grand-Secretary als ein möglicher Bremsklotz. Seine Kollegen hatten dies ebenfalls erkannt, blickten ihren Kollegen darum fragend und aufmunternd zugleich an. Dieser ergriff nun das Wort.
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