Kaiser Yung-Lo saß immer noch auf dem breiten und mit weichen, seidenen Kissen gestopften Sessel. Er schien nachzudenken, ließ sich auch nicht vom eintretenden Diener mit seinem Tablett und dem darauf stehenden, reich geschmückten Kelch ablenken. Mit halb geschlossenen Augenlidern griff er tastend nach dem Wein und trank einen langen Schluck. Dann öffneten sich seine Lider, die Augen begannen zu funkeln und sein Mund verzog sich voller Triumph.
Ich, Kaiser Yung-Lo, werde bald Herrscher über den gesamten Erdball sein.
»Und wann wollen Sie mit der Projektarbeit endlich beginnen?«
Der Secretary der United Grand Lodge sah Jules missbilligend an. Er hatte sich von ihm eben die ersten Schritte erklären lassen und schien davon wenig beeindruckt. Und so fügte er etwas spitz hinzu: »Immerhin sind bereits zwei Monate vergangen, seit Sie den Auftrag von uns erhalten haben und in vier Wochen müssen Sie dem Ausschuss das erste Mal Rede und Antwort stehen.«
Jules entging die Wortwahl des Secretary keineswegs, der von Auftrag erhalten und nicht etwa von Auftrag angenommen sprach. So etwas Ähnliches hatte sich Jules allerdings schon gedacht, als ihn John Brown vor zwei Tagen anrief und um eine dringende Unterredung bat.
Der gute John nimmt sich wohl für äußert wichtig, will sich vielleicht sogar zwischen mich und den Projektausschuss schieben, mir sozusagen die Arbeit und die Risiken des Projekts überlassen und für sich selbst den Ruhm beanspruchen, falls ich den Auftrag erfüllen kann. Ach, John, du weißt nicht, wie oft ich bereits in ähnlichen Situationen steckte, wie oft sich jemand mit meinen Federn schmücken wollte. Henry hat mich von Anfang an vor dir gewarnt, dass du ein falscher Hund sein kannst. Er wusste auch, dass dein heimlicher Favorit für den Job des Projektleiters Sinclair St. James ist und du recht wenig von mir hältst, mich vielleicht sogar gerne scheitern sehen willst? Doch dass du derart ungeduldig bist und es kaum erwarten kannst, mir auf den Zehen herum zu trampeln, hätte ich trotzdem nicht erwartet.
Jules lächelte den Grand Secretary entgegen seinem Gedankengang gewinnend an: »Die Vorbereitungsarbeiten laufen auf Hochtouren, John. Doch alles braucht seine Zeit, bis ein so großes Projekt wirklich in die Gänge kommt.«
Der Logensekretär blickte den Schweizer säuerlich an. Im Gegensatz zu seinem ersten Besuch bei dem Sekretär der Vereinigten Freimaurerlogen Großbritanniens hatte der in diesmal direkt mit dem Vornamen begrüßt.
»Fühlen Sie sich der Aufgabe und der großen Verantwortung überhaupt gewachsen, Jules? Ich will Ihnen nicht zu nahetreten, doch die Loge investiert beträchtliche Mittel in diese Dekadenprojekte. Bitte erzählen Sie mir frei heraus, wenn ich Sie auf irgendwelche Weise zusätzlich unterstützen kann?«
Das wird immer besser , dachte sich Jules grimmig, jetzt willst du auch noch gleich die Federführung im Projekt übernehmen? Das verlangt nach einem gehörigen Denkzettel, mein lieber John.
Äußerst liebenswürdig antwortete Jules: »Das ist sehr freundlich von Ihnen, John, und ich komme gerne auf Ihr Angebot zurück, sobald ich mir selbst einen Überblick über die Aufgabe verschafft habe. Derzeit versuche ich bloß, mich in die Materie ganz allgemein einzulesen, damit ich ja keinen Fehler bei der Organisation des Projekts begehe. Es steht auch für mich viel auf dem Spiel. Ich will meine Logenbrüder nicht enttäuschen.«
Der Grand Secretary schaute ihn etwas unschlüssig an. Jules wirkte auf ihn recht unbedarft. Doch John Brown hatte über den Schweizer viel Gutes gehört und einige Mitglieder des Ausschusses hatten an ihrer letzten Sitzung dessen Entschlusskraft und Durchsetzungsvermögen gelobt. Nun aber wirkte dieser neue Dekaden-Projektleiter völlig verunsichert. Hatten ihn die anderen Mitglieder falsch eingeschätzt oder spielte der Schweizer ihm etwas vor?
Jules las aus der wechselnden Mine von John Brown einige seiner Gedanken ab.
Soll er doch über mich denken, was er will. Umso leichter wird er mir später in die Falle tappen. Danach wirst du mich zwar hassen, doch unsere Grenzen werden klar und hoffentlich für alle Zeiten abgesteckt sein. Besser gleich zu Anfang Klarheit zwischen uns schaffen als später, wenn du dem Projekt wirklich schaden kannst.
Und so fuhr Jules treuherzig fort: »Im Moment weiß ich zwar kaum, wo mir der Kopf steht, doch ich werde in den nächsten vier Wochen bestimmt etwas Brauchbares in Gang setzen, was den Ausschuss zufriedenstellen wird.«
Jules machte auch bei diesen Worten keinen souveränen Eindruck, schien als Leiter des Dekadenprojekts völlig überfordert zu sein.
»Dann halten Sie mich also auf dem Laufenden?«, meinte John Brown knapp und versuchte erst gar nicht, die Überheblichkeit in seiner Stimme zu unterdrücken.
»Aber selbstverständlich, John. Und ich bin Ihnen sehr verbunden, wenn Sie dem Ausschuss gegenüber keine Andeutungen machen, ich meine bezüglich meiner derzeitigen Unsicherheit. Wir beide müssen doch zusammenhalten?«
*
Es war vier Wochen und drei Tage später, als Jules vor dem Ausschuss des Dekadenprojekts der United Grand Lodge in London das erste Mal die Fortschritte erklären musste. Im Vorfeld hatte er dem Grand Secretary eine kurze Präsentation über seine bisherige Arbeit zukommen lassen. Die darin aufgeführten Ideen zum Aufbau und Ablauf des Projekts hätten sich vielleicht für die Einführung einer neuen betriebswirtschaftlichen Standardsoftware in einem mittelgroßen Unternehmen geeignet, zielten jedoch völlig an der wissenschaftlichen Aufgabenstellung des Projekts vorbei. Doch als ihn der Grand Secretary vor einigen Tagen aufforderte, ihm die Präsentation für den Ausschuss vorgängig zur Prüfung und Bewertung zuzustellen, hatte Jules unter der Bitte eingewilligt, dass sie im Vorfeld der Sitzung niemand anderem gezeigt wurde, da sie sich ja noch ändern konnte.
Wie von Jules erwartet hatte ihm John Brown ein positives Feedback zu seiner bisherigen Arbeit zukommen lassen, gleichzeitig die Folien aber umgehend kopiert und mit vor Spott triefenden Kommentaren versehen den Mitgliedern des Projektausschusses ausgehändigt. Entsprechend geladen war die Atmosphäre im großen Konferenzsaal, als Jules Lederer mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht eintrat, die Männer einzeln mit Handschlag kurz begrüßte und sich dann auf dem einzigen freien Stuhl im Raum setzte.
Die Lokalität war von John Brown ausgesucht worden und Jules war von der Einrichtung des Raumes weniger überrascht als vielmehr amüsiert. Der Ausschuss saß mit dem Grand Secretary zusammen hinter einer Reihe von Tischen, während er als Projektleiter vor ihnen und mitten im Raum auf einem einsamen Stuhl Platz nehmen musste, als sei er der Angeklagte und stünde vor einem Gericht. Neben den Stuhl hatte man noch einen schmalen Tisch für seinen Laptop und für den bereitstehenden Projektor gestellt.
Während Jules noch an den Kabeln hantierte und das Hochfahren seines Laptops abwartete, begann der Vorsitzende auch schon mit der förmlichen Einleitung der Ausschusssitzung. Doch in seiner Stimme klang von Anfang an ein gewisser Ärger mit.
»Bruder Jules, Sie haben vor drei Monaten die Leitung des neuen Dekadenprojekts übernommen und sollen uns heute das erste Mal Bericht über die Fortschritte abgeben. Bitte beginnen Sie.«
Jules wunderte sich nicht weiter darüber, dass er nun auch vom Vorsitzenden gesiezt wurde, wie vom Sekretär zuvor. Als Projektleiter schien er in den Augen des Ausschusses nicht mehr gleichwertig zu sein, sondern zu einer untergeordneten Charge zu gehören. Trotzdem erhob sich der Schweizer immer noch freundlich lächelnd, wirkte dabei verunsichert, begann vor dem Ausschuss langsam auf und ab zu gehen, während er offenbar seine Gedanken sammeln musste und noch nach den richtigen Worten suchte.
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