Es war jedoch auch möglich, dass der Kaiser irgendwelche strategischen Ziele in Indien verfolgte. Vielleicht wollte er die überaus reiche Hafenstadt Calicut im sagenumwobenen Kerala erobern? Doch das Königreich Kerala sollte nicht nur unglaublich reich, sondern auch riesengroß sein, wie erfahrene Kapitäne dem Kaufmann erzählt hatten. Selbst eine Million Soldaten würden kaum ausreichen, um das Land zu erobern.
Möglich war aber auch, dass der Kaiser bloß einige Militärgarnisonen einrichten lassen wollte, vielleicht entlang der Straße von Malakka, um so den Seeweg von Westen her sicherer vor Piratenübergriffe zu machen?
Fragen über Fragen und keine Antworten. Wie immer wussten nur die verdammten Chef-Eunuchen, was wirklich gespielt wurde, denn sie hatten als Einzige freien Zugang zum kaiserlichen Palast und kannten darum alle Geheimnisse. Doch diesmal schwiegen sie sich ebenso aus, wie alle hohen Minister. Es gab im gesamten Umfeld des Kaisers niemanden, der dem Kaufmann Informationen zu den tatsächlichen Zielen der Schatzflotte verkaufen wollte. Das war schlichtweg zum Haare raufen.
Zheng He schien das Lauern in der Stimme von Hsia Yuan-chi überhört zu haben. Jedenfalls beantwortete er die Frage des Kaufmanns völlig gelassen: »Ja, da hast du sicher recht. Die Kanonen sind uns auf See nicht gerade von Nutzen. Doch wir haben selbstverständlich auch Fei tian pen tong an Bord, um jedes feindliche Schiff schon aus weiter Entfernung in Brand zu schießen Darum müssen wir auch keinerlei Furcht vor den Piraten von Chen Zuyi im Süden haben.«
Jetzt war es Zheng He, der den Spieß umgedreht hatte. Er wusste, dass dieser Chen Zuyi ein rotes Tuch für den Kaufmann Hsia Yuan-chi war. Ursprünglich standen sich die beiden noch vor wenigen Jahren als erbitterte Rivalen in China gegenüber, jagten einander die fettesten Handelsverträge und Lizenzen ab und bekämpften sich auf vielen Gebieten. Schließlich entschloss sich eines Tages Chen Zuyi, China für immer den Rücken zu kehren, sich nach Süden abzusetzen und auf Sumatra eine neue Machtbasis zu schaffen. Er hatte sich in der Hafenstadt Palembang niedergelassen und dort begonnen, die ansässigen Piraten zu organisieren. Nach wenigen Monaten beherrschte Chen Zuyi mit seinen Kriegs-Dschunken den Handelsverkehr zwischen Indien und China, zwang alle vorbeifahrenden Handelsschiffe in seinen Hafen, knöpfte ihnen dort hohe Steuern und einen Teil der Ladung ab. Der finanzielle Schaden für den Handel zwischen China und Indien war beträchtlich. Mindestens zehn Millionen Taels im Jahr schöpften die Piraten in Palembang jedes Jahr ab, wie Hsia Yuan-chi schätzte. Und um dieses Geld wurde Chen Zuyi jedes Jahr reicher und mächtiger. Die Schar seiner Anhänger in Palembang und entlang der gesamten Straße von Malakka wuchs auch beständig an und längst hatte sich von dort aus ein verhöhnendes Volkslied verbreitet.
Seinen Refrain kannte man selbst am kaiserlichen Hof:
So mächtig die Kaiser auch sind,
was hat ihre Macht mit uns zu tun?
Den wachsenden Reichtum von Chen Zuyi empfand Kaufmann Hsia Yuan-chi als persönliche Schmach, denn aus einer bereits kräftig ausgepressten Zitrone konnte er hier in China nur noch wenig Saft für sich selbst gewinnen, egal, wie skrupellos er dabei auch vorging.
All das wusste Zheng He längst und so hatte er seit seiner Ernennung zum obersten Befehlshaber der Schatzflotte fast schon ungeduldig auf die Einladung des reichen Kaufmanns gewartet. Dieser durfte sich die Gelegenheit einer starken kaiserlichen Flotte in den Gewässern seines Konkurrenten nicht entgehen lassen. Der Kaufmann wusste, Zheng He besaß die Macht und die Möglichkeit, eine Konfrontation mit den Piraten anzuzetteln und sie für alle Zeiten auszuschalten. Für den überaus mächtigen Kriegsverband des Kaisers waren die paar tausend Freibeuter doch bloß ein kleiner Happen.
Zheng He genoss das Gespräch mit dem Kaufmann je länger es dauerte. Es war für ihn äußerst amüsant, Hsia Yuan-chi bei seinem bevorstehenden Bestechungsversuch zuzusehen und zu beobachten.
»Chen Zuyi ist ein gemeiner Pirat«, stellte Hsia Yuan-chi verächtlich fest, »und mit den zu Unrecht erhobenen Steuern auf den Handelsgütern und den Diebstählen schadet er China in ganz besonderem Masse.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung, ehrenwerter Hsia Yuan-chi«, pflichtete ihm der Chef-Eunuch lächelnd zu und hatte damit sein Netz endgültig ausgelegt. Der Kaufmann musste nur noch hinein schwimmen. Äußerlich konnte man dem großen Direktor der Schatzflotte allerdings nichts von seinen Gedanken ansehen. Freundlich blickte er seinem Gegenüber ins Gesicht und lächelte ihn unbestimmt an. Der versuchte selbstverständlich, die Gedanken hinter der Stirn des Eunuchen zu lesen, doch er hatte keinen Erfolg damit.
»Vielleicht muss sich die Schatzflotte trotz ihrer starken Bewaffnung gegen Angriffe dieses Piraten wehren?«, unternahm der Kaufmann einen taktischen Vorstoß. Hoffnung hatte sich in seine Stimme gemischt. Doch Zheng He parierte diesen plumpen Versuch umgehend, lächelte den Kaufmann fast schon spöttisch an und meinte leichthin: »Nach unseren Informationen besitzt Chen Zuyi keine drei Dutzend Kriegsschiffe mit weniger als zehntausend Mann Besatzung. Unsere Flotte verfügt über fünfmal mehr Kriegsschiffe und fast dreimal so vielen Soldaten. Er wird es kaum auf eine Auseinandersetzung ankommen lassen.«
Zur Unterstreichung seiner Worte schlenkerte Zheng He kurz mit seiner rechten Hand, so als wenn er eine Fliege von einem Stück Kuchen verscheuchen müsste.
Hsia Yuan-chi war enttäuscht, sah seinen Gast jedoch weiterhin aufmerksam an. Wie konnte er dieses Gespräch mit dem mächtigen Chef-Eunuchen bloß in die von ihm gewünschte Richtung lenken? Zheng He musste im Grunde doch ganz genau wissen, warum er ihn zu dieser Unterredung eingeladen und das Gespräch auf den verhassten Chen Zuyi gelenkt hatte. Und mit der Annahme der Einladung hatte er doch eigentlich bereits zugestimmt. Warum spielte der große Direktor bloß mit ihm herum? Oder war er vielleicht tatsächlich so naiv und ohne Argwohn?
In Gedanken versunken ergriff der Kaufmann mit seinen Essstäbchen eine mit Reis gefüllte in Kokosfett gebratene und mit Safran und Sesam abgeschmeckte Jakobsmuschel, schob sie in den Mund und kaute auf ihr herum. Zheng He musste ein spöttisches Lächeln unterdrücken, denn Hsia Yuan-chi sah in diesem Moment nicht wie der mächtigste und reichste Kaufmann von ganz Chinas aus, sondern wie ein äußerst nachdenklicher Esel, der mit einem allzu schweren Karren im Tal vor einer steilen Bergstraße stand und nicht mehr weiterwusste. Es war wohl an der Zeit, ihm den entscheidenden Ball zuzuwerfen.
»Allerdings könnte man eine Auseinandersetzung mit den Piraten auch ganz bewusst provozieren und so das lästige Problem im Süden für alle Zeiten beseitigen«, ließ Zheng He verlauten. Das war die unverhohlene Aufforderung an den Kaufmann, ihn, den obersten Kommandanten der kaiserlichen Flotte zu bestechen und auf diese Weise den verhassten Konkurrenten auf Sumatra aus dem Weg räumen zu lassen.
Die bisher unstet flackernden Augen von Hsia Yuan-chi richteten sich verwundert auf den Eunuchen, suchten in dessen Gesicht nach Bestätigung für das ungeheuerliche Angebot. War es möglich, dass sich der Chef-Eunuch bestechen ließ? War dieser besondere Vertraute und Günstling des chinesischen Kaisers tatsächlich mit Geld zu locken?
Zheng He saß stumm und abwartend da, blickte sein Gegenüber bloß ruhig an und wartete auf dessen Antwort, gab dem Händler so die Gewissheit, dass sich dieser ganz bestimmt nicht verhört hatte. Ja, er, Zheng He, der große Direktor und oberster Befehlshaber der Schatzflotte war in dieser Angelegenheit durchaus käuflich.
Sollte Hsia Yuan-chi den Bestechungsversuch also wagen?
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