Dass sich Reginald persönlich um Alioth kümmern wollte und sein Bruder nicht ihn damit beauftragte, konnte wohl nur eines bedeuten. Sein Bruder wollte ihm nicht sämtliche Drecksarbeit aufbürden, nicht so wie ihr Vater seinem jüngeren Bruder Rupert. Silver verspürte ein warmes Gefühl in seiner Brust.
Die V7 Ranch in Raton bot neben Jagderlebnissen auch Ausflüge zu Pferd an. Sie wurden mit dem Eigentümer rasch einig und zogen schon bald auf ihren Gäulen auf Seitenstraßen durch das ruhige, verkehrsarme Städtchen. Chufu hatte irgendwo im Internet die Beschreibung des Weges zum ursprünglichen Passaufstieg gefunden und so führte er zusammen mit Mei ihren kleinen Zug an. Nach einer halben Stunde Wegstrecke verließen sie die letzten Häuser des Ortes, stiegen die schlängelnde Straße immer höher hinauf, die sie zum Old Raton Pass bringen sollte. Bereits nach wenigen Kehren hatten sie eine ansehnliche Höhe erreicht, konnten die verschiedenen Taleinschnitte erkennen, blickten hinüber zur Interstate 25, die sich rund zwei Meilen östlich der alten Passstraße durch die Berge gepflügt hatte, sahen auch das Bahntrasse, das denselben Sattel wie die Schnellstraße benutzte. Doch wenig später verloren sie beide Verbindungslinien nach Colorado aus den Augen, gerieten immer tiefer hinein in eine noch wilde Bergwelt, die selten von Fahrzeugen besucht wurde. Längst war die geteerte Straße zum breiten Naturweg geworden, zu einer Strecke für Four Wheel Drives und High Clearance Wagen. Die Schotterstraße blieb recht breit und so konnten sie die meiste Zeit über gemütlich nebeneinander reiten und miteinander plaudern.
Jules lenkte seinen Gaul jedoch immer wieder mal an den linken Rand der Straße, suchte den Hang neben und unter ihnen nach Hinweisen auf das ursprüngliche Trasse ab, fand mögliche Spuren eines noch älteren Zugangs zur Passhöhe. Er stellte sich auch die Postkutschen und Frachtwagen vor, die sich noch vor hundert Jahren mühsam jede Kehre hatten erkämpfen müssen. Volle sieben Tag hatte damals eine Überquerung des Raton Pass gedauert und dies stets im Bewusstsein einer irgendwo möglicherweise lauernden, tödlichen Gefahr, die auf dieser Strecke jederzeit Opfer fordern konnte.
Was waren das wohl für Männer und Frauen gewesen, die ihr Leben riskierten, als Angestellte von Postunternehmen oder Transportdienstleistern, als Auswanderer und Siedler, Goldsucher und Glücksjäger? Waren die Menschen damals abgestumpfter gegenüber allen Gefahren gewesen? Hatten sie das Leben selbst als eine so große Bedrohung angesehen, dass sie keine Furcht vor dem eigenen Tod verspürten und sich darum auch allen Gefahren mutig stellen konnten? Oder war der Lebenskampf in diesem damals noch so wilden Land dermaßen hart, dass bloß fatalistisch gesinnte Menschen überhaupt bis hierher gelangten?
Selbstverständlich war Jules die Verklärung des sogenannten Wilden Westens vollauf bewusst. Um 1870 herum war beispielsweise jeder dritte Cowboy in Texas ein Afro-Amerikaner und jeder zweite mexikanischer Abstammung. Denn der Job eines Kuhjungen war körperlich sehr hart und gleichzeitig schlecht bezahlt, so dass ihn nur Menschen ausübten, die sonst kaum eine Chance auf dem Arbeitsmarkt besaßen. Schöne Western-Romantik, wenn man wegen drohendem Hunger oder fehlendem Dach über dem Kopf auf einer einsamen Ranch in den Hügeln versauerte, wo man über Wochen und Monate hinweg niemand anderen sah, außer die Arbeitskollegen und die Besitzerfamilie, wo man nebst Verpflegung, Unterkunft und Weidekleidung vielleicht noch dreihundert Dollar pro Jahr ausbezahlt erhielt und dies für vierzehn Stunden harter Arbeit sieben Tage die Woche.
Doch auch andere, gute Gedanken überkamen den Schweizer.
Erst auf dem Rücken eines Pferdes spürte man die Weite dieses Landes so richtig, empfand man den endlosen Himmel über sich als echte Freiheit, fühlte auch die wohltuende Langsamkeit. Im modernen PKW raste man an allem vorbei, legte in zwanzig Minuten so viele Meilen zurück, wie man früher an einem ganzen Tag vorwärtskam, startete man am Morgen in Dallas, um am Nachmittag in Amarillo einzutreffen, eine Wegstrecke, für die ein Frachtwagenzug vor hundertfünfzig Jahren volle drei Wochen unterwegs gewesen war.
Die Langsamkeit der Pferde, Maultiere und Ochsen war im Grunde genommen Lebensqualität pur, ein physikalisch erzwungenes Herunterfahren jeglicher Hektik. Dies galt auch im modernen Leben. Entschleunigung nannte man das wohltuende Phänomen und darauf spezialisierte Psychologen verdienten viel Geld, während jedermann dies eigentlich ohne besondere Einführung oder Anleitung, ohne teure Kurse und anmaßende Coachs völlig selbstständig und augenblicklich auf dem Rücken eines Pferdes für sich gewinnen konnte.
Jules wandte sein Pferd zu einem Hügel auf der rechten Seite der Straße hin, stieg ab und führte es am Zügel zwischen Sträuchern, Felsen und rutschender Erde hinauf. Von oben herab bot sich ihm ein weiter Blick über das gesamte Tal und die daran anschließende, weite Ebene. Er suchte die Trasse der Zugschienen, ausgehend vom Bahnhof in Raton, verlor den Strang jedoch hinter einem Hügelzug rasch aus den Augen. Eine Diesellok kam gemächlich um die Biegung herum gestapft, ließ ihr dumpfes Horn warnend und warm zugleich ertönen, fuhr mit kaum zehn Güterwagons an ihrem Rücken in Richtung Bahnstation.
Die anderen in der Gruppe hatten den Ausflug von Jules bemerkt und waren im Schritt weiter geritten, während Jules immer noch auf der Höhe träumerisch verharrte und die Landschaft weiter betrachtete. Er sah gegenüber seinem Standort einige günstig gelegene Stellen, wo sich damals Apachenkrieger verbergen und beinahe gefahrlos auf vorbeiziehende Fahrzeuge und Reisende schießen konnten. Der Berghang lag kaum hundert Meter von der alten Passstraße entfernt, wurde von ihr durch eine tiefe Schlucht getrennt, bot zahlreiche Verstecke und gute Deckung für Angreifer. Ja, hier hatten sie gelauert, die Krieger von Cochise und Geronimo, die Kämpfer für ihre Freiheit, die schlimmsten Guerillas ihrer Zeit.
Mei, Chufu, Alabima und Alina waren mittlerweile stehen geblieben, schauten zurück und warteten auf ihn, winkten ihm auffordernd zu. Jules saß auf und trat mit den Stiefelfersen seinem Reittier sanft aber auffordernd gegen die Flanken und schnalzte dazu mit der Zunge, bewegte leicht die Zügel und ruckte sein Becken auffordernd nach vorne. Das Pferd suchte sich seinen Weg selbstständig, stieg vorsichtig den Hang hinunter zur Straße, rutschte ein Stück mit steifen Beinen, fiel unten sogleich in einen leichten Trab, sorgte für raschen Anschluss an die Gruppe.
Pferde waren damals vor allem Arbeitstiere gewesen, wurden weder geschont noch besonders gepflegt. Erreichten sie gesund ein höheres Alter, so wurden sie trotzdem gegen jüngere ausgewechselt, so wie ein Handwerker sein abgenutztes Werkzeug austauschte. Bereits für dreißig Dollar, etwas mehr als einen Monatslohn eines Cowboys, bekam man damals ein durchschnittliches Reittier. Wahrscheinlich lag darin der wahre Grund, warum so viele moderne Menschen ihr Auto hegten und pflegten. Denn ihr modernes Fahrzeug hatte weit mehr als einen Monatslohn gekostet, in manchen Fällen mehr als der Verdienst eines ganzen Jahres. War das Ausdruck fürs Anbeten des Mammons? Die Zurschaustellung des wirtschaftlichen Erfolgs im Leben? Oder doch bloß ein andauernder Selbstbetrug in Form von Eigenliebe? Narzissmus im Spiegel der Technik?
Auch das Zureiten der jungen oder wild gefangenen Pferde war kein Zuckerschlecken gewesen, weder für das Tier noch für den Menschen. Hollywood verklärte auch diese Arbeit zu einer Art von Freizeitvergnügen der Cowboys, wo die Ranch-Mannschaft sich fröhlich um den Corral versammelte und dem Kandidaten auf dem Gaul zuwinkten und ihn anfeuerten. In Wahrheit wurde der Hals des Pferdes mit einem kurzen Seil an einem niedrigen Pflock festgezurrt, so dass es seinen Kopf nicht hochwerfen konnte. Zudem band man seine Vorderbeine mit einer Fessel eng zusammen. Manchmal stülpte man ihm zusätzlich eine Wolldecke über die Augen, um ihm die Orientierung zu erschweren. Erst dann wurde es aufgezäumt und gesattelt. Der Zureiter stieg auf das Tier, das aufgrund der Fesseln kaum bocken konnte, am Hochsteigen durch den Pflock, am Herumwerfen durch die Beinfesseln gehindert wurde. Und so fügten sich die meisten Tiere rasch einmal, wurden bei anhaltendem Ungehorsam auch mal in die empfindlichen Ohren gekniffen oder man bearbeitete ihre Flanken mit spitzen Sporen. Es war kein Zureiten, sondern ein Einbrechen.
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