Warum sollte sich der Zureiter auch einer unnötigen Gefahr aussetzen? Falls er sich etwas brach, bezahlte ihm niemand den Arbeitsausfall. Damals gab es noch keine Versicherungen und nur funktionierende Arbeiter erhielten auch Geld. Die Härte des Lebens unter den Menschen hatte sich bestimmt auf ihr übriges Umfeld ausgewirkt, mochten es Tiere, Pflanze oder Lebensraum sein. Denn wer sich nicht selbst behauptete, ging in dieser Welt ganz einfach zugrunde. Und wer auf die Mildtätigkeit der Menschen hoffte oder angewiesen war, hatte in der Regel auf Sand gebaut.
Wenn das Pferd erst einmal eingebrochen war und den Reiter auf seinem Rücken duldete, musste man es für den täglichen Arbeitseinsatz ausbilden und abhärten. Beispielsweise erschreckte der Zureiter das Tier immer wieder mit dem überraschenden Wedeln einer Decke vor seinem Kopf oder dem lauten Knallen einer Peitsche hinter seinem Rücken. Ein Cowboy-Pferd musste vor allem lernen, still stehen zu bleiben, sobald die Zügel auf den Boden wiesen. Denn mitten in der Prärie gab es meist keinen Strauch oder Baum, an dem man sein Reittier hätte anbinden können, um seine Notdurft zu verrichten. Ein weglaufendes Pferd hätte in der Wildnis den sicheren Tod des Cowboys bedeutet.
Rinderpferde lernten zudem, den weit ausladenden Hörnern der Longhorn Bullen geschickt auszuweichen und sich beim Lassowurf im richtigen Moment gegen die Masse des Rindes zu stemmen, um es auf diese Weise zu Fall zu bringen, exakt in dem Moment, wenn sich die Leine strammzog. Wagenpferde dagegen mussten andere Tiere neben, hinter und vor sich im Gespann dulden lernen. Auch war der Gleichschritt und das gleichmäßige Ziehen der Last weitere Disziplinen. Die Ausbildung dieser Tiere zog sich bestimmt über viele Tage oder gar Wochen hin. Schon aus diesem Grund konnte man keine Zeit für das erste Einbrechen eines Pferdes verschwenden. Rationierung und Optimierung im Wilden Westen und auf dem Buckel der Pferde.
Ihre kleine Schar zog nun gemeinsam weiter die Straße hoch, sollte wohl gegen Mittag auf der Passhöhe anlangen.
Wie wurden wohl die Pferde für ihre tägliche Arbeit ausgewählt? Welches Tier sollte sein Leben lang Wagen ziehen? Welches dagegen Rinder treiben helfen? Bestimmt entwickelten die Zureiter und Ausbilder rasch ein gutes Auge für die geeigneten Tiere, hatten auch ihre Tricks, um die richtigen Pferde für die künftige Tätigkeit auszusuchen.
Die freundlichen, genügsamen, sich rasch unterordnenden, landeten bestimmt im Gespann. Waren sie jedoch besonders kräftig oder ausdauernd, lag der Postdienst mit den Kutschen für sie im Bereich des Möglichen. Die eher wilden und aufsässigen wurden dagegen bestimmt zu Rinderpferden erzogen. Denn Cowboys waren es gewohnt, jedem bockenden Tier innerhalb weniger Sekunden den Meister zu zeigen. Sie ritten manchmal mehrere verschiedene Pferde am selben Tag, wechselten sie aus, wenn die Tiere vom Treiben der Viehherde nach zwei, drei Stunden ermüdet waren.
Konnte man womöglich das Verfahren der Pferde-Auswahl vom Wilden Westen auf die heutige Menschenwelt übertragen? Da gab es Fabrikarbeiter und kleine Angestellte, die brav die ihnen übertragenen Aufgaben erledigten und sich mit geringem Lohn zufriedengaben. Eine stellten sich dabei als wahre Arbeitstiere heraus, andere versuchten sich zu drücken. Und dann gab es auch noch die aufsässigen, wilden, die sich nicht so leicht einspannen ließen, die stets eine gewisse Freiheit für sich reklamierten. Auch sie verdienten kaum mehr, fühlten sich jedoch als echte Rebellen, probierten immer wieder mal zu Bocken. Künstler gehörten sicher zu dieser Kategorie, aber auch viele Unangepasste, Aussteiger und Lebenskünstler, letztendlich wohl auch die Penner und Suchtkranken.
Und dann waren da die Cowboys, die Postkutschenlenker und Frachtfahrer. Sie hielten den Betrieb am Laufen, sorgten dafür, dass die Arbeitstiere das taten, wofür man sie angeschafft hatte. In gewisser Weise war dies mit dem heutigen mittleren Management oder den höheren Beamten vergleichbar. Sie wiesen die Angestellten und Arbeiter an, überwachten, kontrollierten und musterten aus. Nicht zu vergessen das oberste Management, das im Wilden Westen in Form von Ranchern, Postlinienbesitzern oder Frachtunternehmern auftrat.
Doch wo standen in dieser Management-Pyramide die Rinder?
Sie waren genauso wie heute reines Arbeitsergebnis, das man produzierte und auf den Markt warf. Western-Romantik ade.
Der einfache Cowboy und der gewöhnliche Frachtfahrer hatten stets Tiere unter sich. War das vielleicht der Grund, warum die Menschen in diesen frühen und recht primitiven Zeiten trotzdem glücklicher lebten als die meisten modernen Menschen mit ihrem Luxus? Damals wie heute waren die Aufstiegsmöglichkeiten gering und die allermeisten mussten sich mit wenig zufriedengeben. Lag also der Grund für Eheprobleme und Scheidungen nicht auch im Umstand begraben, dass man in der modernen Welt weit weniger Umgang mit Tieren hatte, sie vor allem nicht mehr als Werkzeuge einsetzte, sie nicht mehr als Ventile für zwischenmenschliche Probleme benutzen konnte? Lag darin der Schlüssel zur Anschaffung von Hunden und Katzen? Doch im Gegensatz zu den Pferden führen kleine Haustiere kaum zu einer Entschleunigung des Lebens, sorgten eher für eine zusätzliche Belastung.
»Dieser Ausritt war eine echt gute Idee, Jules.«
Chufu hatte sich etwas zurückfallen lassen, ritt nun neben seinem Adoptivvater. Der Philippine fühlte sich pudelwohl auf seinem Gaul. In Brasilien hatte er gelernt, mit echten Rinderpferden umzugehen und sie auch für Viehtriebe einzusetzen. Die Tiere wurden in der heutigen Zeit jedoch weit behutsamer als früher an ihre Arbeit herangeführt. Sie reagierten auf jede noch so leichte Bewegung der Zügel, ja selbst die richtige Gewichtsverlagerung eines guten Reiters zeigte den Tieren exakt an, was er von ihnen verlangte. Pferd und Mensch verschmolzen zu einer Einheit, die auch ohne bösartigen Druck tadellos funktionierte.
Ähnlich dem Prozess der Teambildung in modernen Unternehmen. Man schweißte das mittlere Management mit ihren Untergebenen zu einer echten Einheit zusammen, belohnte und bestrafte sie gemeinsam, sorgte damit für gehörigen Gruppendruck und holte so mehr aus jedem Individuum heraus.
Jules schüttelte über diesen Gedanken unwillig den Kopf, so als wollte er ihn gleich wieder wegwischen. Doch Chufu hatte die Übersprunghandlung von Jules beobachtet.
»Was ist?«, fragte er ein wenig besorgt.
»Ach nichts. Nur ein dummer Gedanke, der mir gerade kam. Aber ich gebe dir Recht. Einen schöneren Ausritt wie heute kann man sich kaum vorstellen. Der blaue Himmel, die kleinen, weißen und doch so dichten Wolken, dazu dieses malerische Tal mit dem Grau der Felsen und Gelb der Erde, dem Grün der Pflanzen. Herrlich. Und alles ohne störenden Motorenlärm.«
Wie als Entgegnung hörten sie in diesem Moment ein Fahrzeug weiter oben aufheulen. Wenig später kam es die Straße hinunter gebraust. Es war ein weißer Pickup mit Firmenaufschrift. Der Lenker musste die unbefestigte Straße recht genau kennen, denn er zeigte wenig Respekt vor dem rutschigen Schotter. Wenigstens bremste er angesichts der Pferdekarawane ein wenig ab, wich ihnen auch soweit als ihm möglich nach rechts aus. Hinter dem Steuer konnte man das stoische Gesicht eines Mannes erkennen, der vielleicht froh darüber war, von diesem einsamen Ort endlich wegzukommen, dies jedoch nicht offen zeigte, weil er häufiger hier oben zu tun hatte und er ihn deshalb gewohnt war.
Eine ganze Weile lang ritten Chufu und Jules stumm nebeneinander, blickten voraus und auf die Rücken der anderen vor ihnen. Wiederum hatte sich Mei der kleinen Alina angenommen, die diesmal auf einem ausgewachsenen Pferd reiten durfte, da im Mietstall kein Pony zur Verfügung gestanden war. So hoch oben fühlte sich die Kleine noch weit wichtiger, schaute sich von Mei beständig ab, wie diese mit ihrem Tier umging, versuchte sie in allem zu kopieren. Die Chinesin zeigte ihr geduldig die Tricks, mit denen man seinem Reittier entsprechende Hilfen gab, damit es leichter verstand, was man von ihm erwartete.
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