»Alioth treibt ein falsches Spiel.«
Silver sprach die Worte in Richtung Themse, sah noch immer nicht auf seinen Bruder.
»Wie meinst du das?«
Reginald trat neben Silver, schaute nun ebenfalls hinaus, verfolgte mit seinen Augen ein Frachtschiff, wie es sich gegen die Strömung stemmte und langsam am Bürogebäude an der Canary Warf vorbeizog.
»Im Club hat mich Arthur Hicks angesprochen. Er erzählte mir, dass er Alioth vor ein paar Tagen am Hauptsitz von Hector & Clide sah.«
»Alioth?«, fragte Reginald unnötigerweise zurück, sah seinen Bruder von der Seite her an. Der nickte, schaute ihn jedoch immer noch nicht an.
»Ja, der gute Alioth will uns wahrscheinlich in die Pfanne hauen.«
Reginald blickte sich im leicht spiegelnden Fensterglas an, sah jedoch nicht sich, sondern den mittelgroßen Alioth Milkins vor sich, mit seiner Halbglatze und den pomadisierten Haarsträhnen, die er sich stets sorgfältig über die Blöße kämmte, sah auch die dickrandige, schwarze Hornbrille mit den recht kleinen Gläsern, die ihn wie einen intellektuellen Architekten ausschauen ließ, zudem seine flinken, manchmal unsteten Augen, die so gar nicht zu seiner Tüchtigkeit passten. Alioth Milkins war seit über zehn Jahren Vorstandsmitglied in zahlreichen Unternehmen ihres Familienkonzerns, hatte sich stets mit vollem Einsatz eingebracht, viele gute Ideen und Strategien entwickelt, mit denen sie Dutzende von Millionen Pfund eingespart oder verdient hatten. Besonders stark war Alioth in der Umsetzung von anspruchsvollen Turnarounds, hatte mehr als einmal ein schlingerndes Unternehmen als CEO übernommen und rasch wieder auf Kurs gebracht. Und nun sollte dieser Alioth Milkins ein falsches Spiel mit ihnen treiben, sie hintergehen und mit der ärgsten Konkurrenz im Energiesektor zusammenarbeiten?
»Das muss nichts zu bedeuten haben«, stellte Reginald deshalb erst einmal fest und blickte wieder hinüber zum Bruder.
Doch Silver schüttelte verneinend den Kopf.
»Ich hab mich weiter erkundigt und auch eine Detektei auf ihn angesetzt. Alioth hat Schulden, hohe Schulden. Er scheint finanziell am Abgrund zu stehen.«
»Wie das?«
»Was weiß ich. Wahrscheinlich verspekuliert. Er soll viel Geld mit Madoff Fonds verloren haben und zudem über Kredite zahlreiche spekulative Schiffsbeteiligungen in Deutschland besitzen, die stark an Wert verloren haben. Alioth war wohl für einmal zu gierig gewesen oder wurde auf dem falschen Fuß erwischt. Sein Schloss in Sussex ist mit Hypotheken so sehr zugedeckt, dass seine Hausbank bereits die Übernahme mit ihm verhandelt. Und seine Villa auf Gran Canaria steht zum Verkauf. Unter Preis, wie mir ein lokaler Immobilienhändler versichert hat.«
»Aber warum bittet er dann nicht uns um Hilfe?«
Silver hob seine Schultern, ließ sie wieder fallen.
»Würdest du deinen Geschäftsfreunden gegenüber eine Schwäche zugeben? Solange du irgendwelche Alternativen hast? Stolz ist vielen Menschen immer noch das Wichtigste, steht vor der Vernunft oder der Sicherheit.«
Reginald schwieg, sah einem weiteren Frachtschiff entgegen, das rasch stromab fuhr.
»Aber sich an den Feind verkaufen?«
Silver antwortete seinem Bruder nicht, meinte stattdessen bloß: »Oldman?«
»Lass den Alten bloß aus dem Spiel«, die Stimme von Reginald klirrte vor Härte. Als älterer Bruder hatte er in ihrem Zweiergespann schon immer die Führerschaft beansprucht. Doch dann fügte er seltsam sanft hinzu: »Ich regle das persönlich mit Alioth.«
Silver kannte die starken Gemütsschwankungen von Reginald. Sie begleiteten ihn seit Kindesbeinen an. Schon als Knirps war er in gewissen Dingen störrisch wie ein Esel gewesen, ließ sich weder mit Worten noch mit Strafen überzeugen. Und dann kehrte er doch plötzlich seine Meinung um, passte sich an, ordnete sich unter. Es war, als wenn er sich innerlich selbst zur Raison rufen konnte, als bestünde er aus zwei völlig verschiedenen Menschen, die immer wieder miteinander kämpften und wo einmal der jähzornige, ein andermal der kaltblütige die Oberhand behielt.
Silver blickte das erste Mal von der Themse auf und kurz zum Bruder hinüber. Reginald schaute starr hinaus und so folgte Silver seinem Blick. Denn Reginald schaute nicht etwa auf den Fluss hinunter, auch nicht auf ein gegenüberliegendes Gebäude, sondern in die tiefhängenden Wolken, die sich in stürmischen Böen immer wieder zusammen bauschten und gleich wieder zerpflückt wurden, als ein ständiger Kampf der Elemente.
Eigentlich hatte Reginald Zeit seines Lebens schlussendlich stets das bekommen, was er wollte, ob im Streit und Kampf oder im Nachgeben und Verhandeln. Irgendwie konnte sein Bruder alle Widerstände überwinden. Als Junge unterlag er zwar noch oft in einer Auseinandersetzung, musste erst lernen, wann der Trotz und wann die List zum Ziel führte. Doch schon als Teenager beherrschte er die halbe Familie, spielte die Angestellten in der Küche gegen diejenigen im Hausdienst aus, zettelte gar einen Faustkampf zwischen dem Gärtnerlehrling und dem frisch eingestellten, jungen Chauffeur an. Über Wochen redete er dem Gärtnerlehrling ein, der Chauffeur würde durch seine rücksichtslose Fahrweise immer wieder ganze Kübel voller Kieselsteine über Rasen und Blumenrabatten verteilen. Dabei war es Reginald selbst, der in unbeobachteten Momenten mehrmals und von Hand die Steine in die Beete wischte. Der Gärtner in Ausbildung wurde jedoch immer wütender, bis es zum Ausbruch und der Schlägerei kam.
Silver hatte damals seinen älteren Bruder nach seinen Gründen für die Intrige gefragt und Reginald hatte gemeint, der Chauffeur hätte ihn vor ein paar Wochen verächtlich behandelt. Zu dieser Zeit lebten noch Wachhunde auf Bedfort Castle und einer von ihnen war an diesem Morgen aus seinem Zwinger entkommen und laut bellend auf den älteren Bruder zugesprungen. Der flüchtete sich laut um Hilfe schreiend ins Haus, während er vom Chauffeur beobachtet und ausgelacht wurde.
Nach dem Faustkampf fehlten dem jungen Fahrer zwei Zähne und der Gärtnerlehrling beklagte einen gebrochenen Mittelfinger. Oldman warf beide fristlos hinaus. Als er seinen Entscheid den beiden Söhnen beiläufig mitteilte, beobachtete Silver seinen Bruder ganz genau. Reginalds Gesicht zeigte keinerlei Regung, weder Befriedigung noch Schuldgefühle. Der Ältere der McPhearsen Brüder schien keinerlei Empfindung zu kennen. Hatte er seinen Groll gegen den jungen Fahrer bereits wieder vergessen? Oder hatte er damals schon seine eigenen Regeln aufgestellt? Ein verhöhnendes Lachen gegen zwei Zähne und den Verlust der Arbeitsstelle getauscht? War das der Anspruch seines Bruders an eine ausgleichende Gerechtigkeit?
»Und wie?«
Eine Ewigkeit schien seit dem letzten Satz von Reginald vergangen zu sein und die Frage von Silver klang deshalb kläglich und ohne jeden Zusammenhang, hing darum einsam im Sitzungsraum. Doch die Antwort des Älteren folgte ohne Zögern: »Das geht dich diesmal nichts an.«
Silver war trotzdem zufrieden, auch wenn er wusste, dass dieses Gefühl eigentlich das falsche war. Doch Reginald war schon immer der Bestimmende von ihnen beiden gewesen, derjenige, der sich auch ein paar Mal großzügig den Problemen des jüngeren Bruders angenommen hatte und sie für ihn auflöste oder klärte. Wie damals, als er mit einem der McIntier Brüder ohne richtigen Grund Streit bekam. Wenig später waren während des Sportunterrichts Hose, Socken und Schuhe aus seiner Umkleidekabine verschwunden und Silver fand sie später auf dem Pausenplatz über die Büsche verteilt. Sein halbnacktes Zusammensuchen seiner Sachen wurde vom hämischen Gelächter des McIntier Anhangs begleitet und Silver fühlte sich entehrt. Reginald sorgte damals nicht nur für die Entlarvung des Missetäters Freddy. Er suchte sich auch ein paar Kollegen zusammen, mit denen er dem verdammten Kerl auf dem Nachhauseweg auflauerte und ihn windelweich prügelte. Die Eltern von Freddy beklagten sich damals bei der Schulleitung, schalteten sogar die Polizei ein. Ein Constable hatte daraufhin ihre Klasse besucht und die Schüler über den Vorfall befragt. Alle hatten geschwiegen, auch diejenigen, die etwas wussten. Und selbst Freddy blieb stumm, verweigerte jede Aussage. So tief war ihm der Schrecken ob der erhaltenen Schläge in die Knochen gefahren.
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