Noch einmal zog der Alte den Rotz aus der Nase und spuckte aus. Weniger angewidert als zuvor. Sogar mit einem Anflug eines stolzen Lächelns in seinem sonst so unbeweglichen Gesicht. Trotz all der Sorgen.
Bereits konnte Adair McNeill einzelne Fischerboote erkennen, zählte unhörbar ihre Namen auf.
Adele Two.
Waterfowl.
The Rocket von Gordon Blair.
Doch wo blieb Gavin mit seiner Fenella?
Adair starrte noch angestrengter zu den übrigen, sich nun rasch nähernden Booten hinüber, erkannte weitere Namen und dann, endlich, auch sein Schiff.
Unbeweglich wartete der Alte nun auf das Einfahren der Fischer. Adele Two von Abercrombie war das erste Boot. Wallace stand im Ruderhaus, blickte zu ihm hinüber, schüttelte missmutig seinen Kopf. Er schien verzweifelt.
Der alte Adair spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Wiederum nichts. Erneut zu wenig Fang. Seine Brust verengte sich und McNeill schnaufte ärgerlich-wütend und voll banger Furcht auf. Noch konnte der Alte allerdings hoffen, wollte einfach daran glauben, dass Gavin mit seiner Fenella in dieser Nacht weit besser abgeschnitten hatte als Wallace Abercrombie mit seiner Adele Two.
Es fuhren weitere Boote ein und jeder der Skipper schüttelte mit finsterem Blick seinen Kopf in Richtung McNeill. Äußerlich unerschüttert stand der Alte weiterhin an der Pier, spürte die Blicke der ankommenden Fischer wie Messerstiche, fühlte zudem, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Alle seine Hoffnungen schwanden und bei einer der nächsten Böen schwankte Adair McNeill sogar, ähnlich einer alten, knorrigen Eiche in ihrem letzten Gewitter.
Auch Gavin McNeill kam nun in den Hafen eingefahren, sah seinen Großvater dort stehen, schüttelte ebenso verneinend seinen Kopf, zeigte dasselbe hoffnungsloses Gesicht wie all die anderen zuvor.
Der Alte nahm dies kaum noch wahr, dachte weder an die lästigen EU-Beamten noch an die Ölfirmen oder Umweltschützer, spürte nur die übergroße Furcht vor der so ungewissen Zukunft.
Adair McNeill wandte sich ab und ging langsam und etwas schwankend nach Hause. Nein, er würde sich nicht mit Gavin und den anderen im Pub treffen, wollte nicht die niedergeschlagene Stimmung oder die Wut oder die Ohnmacht der Fischer sehen und hören und spüren müssen. Aus den Augenwinkeln heraus sah er eher unbewusst zu, wie man die wenigen Kisten mit dem Fang von Bord der Schiffe hievte. Er zählte sie nicht, wollte das Trauerspiel nicht mit ansehen, blickte weder nach links noch nach rechts, beantwortete noch nicht einmal den einen oder anderen zugerufenen Gruß.
Denn Adair dachte an früher, an die goldenen Zeiten ohne jede Fangquote, als das Meer noch voller Freiheit, Fische, Krebse und Muscheln war, als man als Eigentümer seines Bootes noch stolz und mit erhobenem Haupt jeden Morgen in den Hafen einlief, weil man wusste, dass man seine Familie, seine Liebsten, mit eigener Hände Arbeit ernähren und versorgen konnte.
Der alte McNeill hielt erst an der Ecke zur Frithside Street inne, drehte sich noch einmal zum Hafen um, schaute ruhig auf das Geschehen, sah möglicherweise aber auch nur die Bilder längst vergangener Tage.
Irgendwann drehte er sich ab und ging er weiter, während stille Tränen über seine Wangen liefen.
Er war noch nicht zu Hause angekommen, als die ersten Fischer lärmend ins Dragon & Lyons eintraten und dort von Kevin Lindsay, dem fünfzigjährigen Wirt, herzlich und mit Vornamen begrüßt wurden.
»Und? Wie war´s diese Nacht«, fragte er, obwohl er die Antwort längst in den Gesichtern seiner ersten Gäste an diesem frühen Morgen hatte ablesen müssen.
»Daingit!«, ereiferte sich der ewig jähzornige Clyde McBain sogleich. Er war Eigentümer und Skipper der Gloria, einem kleineren Trawler, der seine Familie schon früher stets nur knapp über die Runden hatte bringen können, »nicht einmal ein halbes Hundredweight.«
Nur wer wusste, dass ein Fischerboot bei dieser See in einer Nacht Diesel für hundertzwanzig Pfund schluckte, konnte ermessen, wie gering die fünfhundert Pfund Sterling als Tagesverdienst wogen. Sein guter Freund und einziger Matrose Russell Wemyss stand neben McBain und hatte zu den Worten seines Kapitäns nur ernst, stumm und zustimmend genickt. Der Hüne mit den roten Borstenhaaren hieß eigentlich mit Vornamen Rory. Doch den hatte er wohl selbst längst vergessen, so wie alle anderen Menschen im Ort. Er fuhr seit mehr als zwei Dutzend Jahren mit Clyde McBain zum Fang aus, bekam nur unregelmäßig seinen Lohn ausbezahlt, lebte immer noch, und das mit dreiundvierzig Lebensjahren, im Haus seiner Mutter, hatte auch nie geheiratet, hätte mit seinem geringen Verdienst niemals eine Frau oder gar eine ganze Familie durchbringen können. Er war vielleicht auch nicht richtig im Kopf, der gute Russell, hatte schon als Jugendlicher die wildesten und dämlichsten Dinge angestellt, wollte sich auf diese Weise die Anerkennung und Freundschaft seiner Klassenkameraden sichern. So auch einmal im Spätherbst und mit vierzehn Jahren, als er trotz Sturmwarnung mit einem Dinghi hinaus zum Kinnard Head Lighthouse gerudert war, aufgrund einer saudummen Wette und als idiotische Mutprobe. Zwölf Fischerboote liefen damals aus, um den Jungen auf See zu suchen und zu retten. Sie fanden ihn Stunden später völlig durchweicht und vor Kälte zitternd auf den Klippen der Halbinsel, wo sein Boot aufgelaufen und zerschellt war. Sein linker Unterarm war mehrfach gebrochen. Trotzdem oder gerade aufgrund seiner großen Not grinste er seinen Rettern tapfer entgegen. Sein Vater jedoch, der damals noch lebte, schlug seinen geretteten Sohn noch am Hafen grün und blau. Erst danach fuhr er ihn ins Krankenhaus, wo dem Jungen die Brüche gerichtet und die Prellungen und Abschürfungen behandelt wurden. Die Wette um zwei Pfund hatte Russell alias Rory allerdings gewonnen. Und den Wert der von ihm entwendeten und verlorenen Jolle bezahlte er in den nächsten zehn Jahren getreulich und tapfer dem Eigentümer zurück. Denn so war Rory Wemyss nun einmal. Unsicher gegenüber allen anderen Menschen, völlig stur in seinen oft verrückten Handlungen, aber ausgesprochen willensstark, wenn es um seine angebliche Ehre ging.
Ohne dass irgendwas bestellt worden wäre, schob Kevin Lindsay den Fischern mit Ale gefüllte Gläser hin.
»Aufs Haus«, meinte der Pub-Betreiber ruhig und bestimmt, wusste er doch, dass weitere und damit auch bezahlte Gläser folgen sollten.
Nach und nach trafen die anderen Fischer ein, manche laut fluchend, andere sich mundfaul an einen der Tische setzend, alle danach dumpf brütend ihr erstes Gratis-Bier schlürfend. Kevin fand für jeden ein tröstendes oder zumindest aufmunterndes Wort, wusste um die Not eines jeden seiner Gäste, kannte sie und ihre Sorgen wohl auch weit besser als der Pfaffe des Fischerorts.
Plötzlich stieß einer, der in der langen Reihe Schulter an Schulter an der Theke mit anderen stand, zwei Worte aus, laut und voller Bitterkeit, wie ein gemeiner Fluch.
»Verdammte Beatrice.«
Alle im Pub wussten, was Aidan Munro mit seinem gehässigen Ausruf meinte. Keine Frau und auch kein Schiff, oh nein. Denn Beatrice, das war der Name des großen Windparks, den man in der Moray Firth Bucht bauen wollte. Seit mehr als einem Jahr war man daran, die Fundamente für die über hundert Meter hohen Turbinenanlagen im seichteren Meerwasser zu gießen. Vierundachtzig von diesen Monstern sollten insgesamt gebaut werden. Sie kosteten mehr als zwei Komma fünf Milliarden Pfund, würden im besten Fall 450´000 Haushalte mit unstetem Strom versorgen können.
»Verdammte Windräder«, doppelte Aidan Munro nach, auch wenn niemand auf seinen ersten Ausruf hin reagiert hatte. Grollend fügte der Fischer das hinzu, was sie alle schon so viele Male aus seinem Mund vernommen hatten, »sechstausend Pfund Investition pro Haushalt für unnützen Flatterstrom, den niemand wirklich braucht.«
Читать дальше