Sheliza blickte die immer noch so schöne, fünfundvierzig Jahre alte Britin offen, aber auch nachdenklich an, begann dann zu nicken.
»Ich verstehe euch zwar, denn auch ich fühle, wie sehr ich mich in den letzten drei Monaten verändert habe, wie ich heute ganz anders denke als noch vor einem halben Jahr. Doch ich schäme mich so sehr, euer Vertrauen missbraucht zu haben…?«
Ihre Stimme versagte ihr und sie senkte ihr Gesicht vor Scham, blickte hinunter auf ihre Tochter Fadoua, die sie sogleich anstrahlte und unvermittelt versuchte, mit der winzigen Hand die Nase ihrer Mutter zu erwischen. Doch die Kleine verschätzte sich gehörig in der Entfernung, wischte nur durch die Luft und schaute deshalb verwundert auf ihre immer noch leere Hand.
»Das ist ein Teil des Erwachsenwerdens«, begann Henry und als Sheliza aufblickte, fügte er sanft hinzu, »ich meine, Fehler zu begehen. Wir alle lernen aus ihnen und das sollte auch dir genügen.«
In der Wohnung stützte sich Henry nur auf einen Laufstock, wollte den durchschossenen Unterschenkel nicht länger mit Hilfe zweier Krücken schonen, glaubte mit Bewegung und Belastung eine raschere Heilung zu bewirken.
»Aber irgendeine Strafe müsst ihr mir auferlegen«, verlangte die junge Syrierin.
Wiederum sahen sich die beiden Briten einverständlich an, so als hätten sie die Forderung von Sheliza in dieser Art erwartet und alles Weitere längst miteinander besprochen und festgelegt.
»Na gut«, entschied Holly, »zur Strafe wirst du den Antrag fürs Gericht unterzeichnen, mit dem du deine Eltern und Geschwister für tot erklärst. Anschließend lässt du dich von uns beiden adoptieren.«
Sheliza bin-Elik war zwar noch sehr jung und wirkte öfters naiv wie ein Kind, schien diesmal jedoch hinter der Forderung der Britin sogleich auch die List zu erkennen.
»Ihr wollt doch bloß, dass Fadoua und ich finanziell abgesichert sind. Ist es nicht so?«
Sie sah Henry und Holly triumphierend an. Doch die beiden Briten zeigten nicht das von der Muslimin erwartete Lächeln, sondern blickten ihre Pflegetochter ernst und sogar voller Teilnahme an.
»Das ist auch gar keine Strafe«, meinte die 15-jährige entschieden und auch ein wenig bekümmert, »denn in Al-Sukhna haben mir unsere früheren Nachbarn glaubhaft versichert, dass alle meine Angehörigen durch die Dschihadisten umgebracht wurden.«
Henry schüttelte trotzdem langsam und verneinend den Kopf.
»Du irrst dich, Sheliza. Es ist ein sehr großes Opfer, das wir von dir erwarten. Wenn du beim Notar vor dem Schriftstück sitzt und es dir noch einmal in Ruhe durchliest, wird dir die Konsequenz deiner Unterschrift bewusstwerden, nämlich dass du mit deinem Namen den Tod deiner Eltern und deiner Geschwister bezeugst. Spätestens dort wirst du spüren, wie hoch die Strafe ist, die wir dir heute auferlegen.«
Die Syrierin blickte den Briten erst erstaunt und dann nachdenklich geworden an. Und sie forschte in sich nach der Antwort auf seine Behauptung. Plötzlich begann ihre Unterlippe zu zittern. Sie nahm sie zwischen ihre Schneidezähne, klemmte sie fest und schluckte dann trocken, nickte langsam und verstehend, während Holly und Henry mit ansehen mussten, wie die 15-jährige mit den Tränen kämpfte.
*
Die Strafanzeige gegen Alabima wurde bis zur Verhandlung nicht zurückgezogen. Auch auf den Vorschlag der Staatsanwaltschaft, ein abgekürztes Verfahren durchzuführen mit bedingter Busse und einer finanziellen Genugtuung für das Opfer, willigte der Kläger mit seinem Anwalt nicht ein. So fand sich Alabima Lederer als Angeklagte vor dem Einzelrichter wieder. Der nahm die Anträge der Staatsanwaltschaft, der Verteidigung und des Anwalts des Privatklägers entgegen und verurteilte die Äthiopierin nach kurzer Befragung zum Hergang und den exakten Verletzungen des Opfers zu einer Busse über fünfzigtausend Schweizer Franken auf zwei Jahre bedingt. Zudem verlangte er eine Therapie der Angeklagten zur Verminderung ihrer Gewaltbereitschaft durch einen vom Gericht anerkannten Psychologen. Und er sprach dem Opfer ein Schmerzensgeld über fünftausend Franken zu. Alabima sollte neben den Gerichtskosten von dreizehntausend Franken auch noch das Anwaltshonorar des Privatklägers über sechstausend übernehmen.
So geheuer schien dem Richter die Anklage gegen die Äthiopierin allerdings nicht zu sein. Denn wie sollte diese mittelgroße, schlanke, kaum sechzig Kilogramm leichte Frau einen Brocken von über hundert Kilogramm K.O. schlagen können? Aber die diversen schriftlich vorliegenden Aussagen von Augenzeugen ließen kaum Zweifel am Tathergang zu. Selbst die Verteidigung widersprach nicht und führte noch nicht einmal Gründe für eine Strafminderung an. Auch sprach die Angeklagte bloß von einer stark empfundenen Provokation durch den Mann, die bei ihr einen bedauernswerten Kurzschluss ausgelöst hatte, den sie heute sehr bedauerte.
Der rassistische Vater war mit der Höhe des Schmerzensgelds bestimmt nicht einverstanden, sah immer wieder begehrlich zur aparten, dunkelhäutigen Frau und ihrem wohlhabenden Ehemann hinüber, die ihn jedoch beide nicht beachteten. Er würde das Urteil mit seinem Anwalt besprechen müssen, ob vielleicht vor der nächsthöheren Gerichtsinstanz ein paar Scheine mehr als Schmerzensgeld für ihn drin lagen.
Auf dem kurzen Heimweg nach La Tour-de-Peilz sprachen die beiden Eheleute kein Wort miteinander. Doch als sie die Haustüre hinter sich geschlossen hatten, umarmten sie einander und küssten sich stürmisch. Jules nahm Alabima auf seine Arme und trug sie hinauf ins Obergeschoss und direkt in ihr Schlafzimmer, ließ sie fröhlich ausgelassen und mit viel Schwung aufs Bett plumpsen und legte sich neben sie. Sie küssten und streichelten einander, fühlten rasch die beginnende Erregung.
»Meine Schwerverbrecherin«, lockte der Schweizer und strahlte über sein ganzes Gesicht, »was stell ich bloß mit einem solch bösen Mädchen an?«
*
Shamee Ling war monatelang verschwunden. Zuerst vermuteten ihre Angehörigen eine Entführung der 17-jährigen, wie sie in Rio de Janeiro bei wohlhabenden Familien immer wieder vorkamen. Doch Lösegeldforderungen blieben aus und alle Suche nach dem Verbleib der jungen Frau verlief im Sand. Doch dann war sie von heute auf morgen erneut aufgetaucht und in die elterliche Villa zurückgekehrt, hatte keinerlei Erklärung über ihren Aufenthaltsort und den Grund ihrer Abwesenheit abgegeben, sich weder ihren Eltern noch ihren Geschwistern anvertraut. Wenige Tage später jedoch stritt sich Shamee heftig mit ihrer Mutter Sihena und verließ daraufhin erzürnt das Elternhaus, tauchte erneut ab. Wohin sie diesmal ging, auch das wusste niemand, auch nicht ihre ältere Schwester Mei Ling, deren Freund und Lebenspartner Chufu Lederer war, der philippinische Adoptivsohn von Jules und Alabima.
Die Aufregung in der Familie Ling hielt sich beim zweiten Verschwinden der jüngsten Tochter verständlicherweise in Grenzen. Shamee war schon immer ein eigenwilliges und schwieriges Kind gewesen. Als Teenager kam ein unheilvoller Stolz hinzu, der die junge Frau unnahbar und überheblich gegenüber fast allen Menschen machte. Schon mit vierzehn ließ sie sich von niemandem mehr etwas sagen und mit siebzehn bestimmte sie weitgehend selbst über ihr Leben, das aus etwas Schule und viel Müßiggang bestand. Ihre chinesisch-stämmigen Eltern hatten zwar versucht, alle ihre Kinder traditionell und innerhalb all der Zwänge und Regeln einer asiatischen Familie zu erziehen. Doch was bei den älteren Geschwistern von Shamee durchaus gefruchtet hatte, blieb bei der jüngsten ohne Erfolg. Das Nesthäkchen der Familie war wohl zu lange von allen vergöttert und verwöhnt worden.
Großvater Ling war vor einigen Jahrzehnten als junger Mann nach Brasilien ausgewandert, hatte nach harten Arbeitsjahren einen Imbiss eröffnet und ihn zu einem bescheidenen Speiselokal ausgebaut. Sein Sohn Zenweih, der Vater von Shamee und Mei, hatte aus diesen Anfängen gemeinsam mit seiner Ehefrau Sihena eine Kette mit über zwanzig gut gehenden China-Restaurants aufgebaut. Die Lings galten in Rio de Janeiro als reich und waren tatsächlich sehr wohlhabend geworden. Und selbst wenn sich Zenweih und Sihena über all die Jahre hinweg als Ehepaar auseinandergelebt hatten, so funktionierte ihr gemeinsam geführtes Unternehmen weiterhin ausgezeichnet.
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