»Das wird er wohl. Einen Fall hast du im Moment nicht zu bearbeiten?«
»Nein, aber wenn du so fragst, hast du sicher einen für mich?«
»Es geht um einen Kanuunfall auf der Lippe. Gestern um die Mittagszeit.« Sie erklärte kurz den Sachverhalt. »Gerade habe ich Bescheid bekommen, dass das Kanu noch immer nicht gefunden wurde, auch von dem Ruderer fehlt jede Spur. Er oder sie ist nirgendwo aufgetaucht.«
»Ich will dir gerne helfen, Vera, aber handelt es sich um ein Tötungsdelikt? Ich möchte nicht der Wasserschutzpolizei auf die Füße treten. Außerdem haben diese Leute mehr Erfahrung in Sachen Ertrinken.«
»In dem Punkt stimme ich mit dir völlig überein, Albert. Es ist nicht deine Angelegenheit, aber ich möchte die Sache akribisch untersucht haben. Mir geht die Aussage dieser Frau Dr. Kötter nicht aus dem Sinn, die erkannt haben will, dass dieser Mann mit dem Tode gerungen hat. Ich kenne die Frau. Sie weiß, was sie sagt. Ich bin ab und an noch bei ihr in der Praxis. Außerdem glaubt sie, Blut gesehen zu haben.«
Berendtsen überlegte still. Er kramte seine Tüte mit den Gummibärchen aus der Tasche. Vera bediente sich gerne.
»Das ist deine Sucht, nicht wahr, Albert? Seit wann hast du dieses Laster? Als wir noch zusammen waren, hattest du den Fimmel noch nicht.«
»In Hamburg hat es begonnen. Ein Kollege hatte dieses Laster. Ich sollte ihm böse sein«, lachte Albert.
Vera ließ ihn nachdenken.
»Also … ich könnte mich mit dieser Frau Doktor … Wie heißt sie?«
»Kötter. Käthe Kötter. « Sie übergab ihm die Akte. »Siebzig Jahre ungefähr, Praxis in Polsum.«
Albert klappte die Mappe auf. Sie enthielt nur ein einziges von Hand ausgefülltes Formblatt, abgezeichnet von Polizeiobermeister Frank. Ein Bericht über das sichergestellt Motorrad. Albert zog die Stirn in Falten.
»Bist du sicher, dass das die Akte vom Kanu ist? Sieht nach einer Vespa aus.«
»Es ist nicht das meiste, Albert. Ich weiß. Es fehlt noch der Bericht der Wasserschutzpolizei. Ich habe ihn angefordert. Ich warte drauf. Inzwischen habe ich ein Protokoll erstellt, auf der das Geschehen mit dem Kanu von mir nach einem Telefongespräch mit Frau Dr. Kötter aus dem Gedächtnis aufgeschrieben wurde.«
Sie schob ihm das Blatt über den Tisch.
»Das ist gar nichts.« Er erhob sich. »Trotzdem. Ich werde mich dir zuliebe mit Frau Dr. Kötter unterhalten. Kann ich Hallstein mitnehmen oder soll es unter uns bleiben?«
»Wie du möchtest, Albert. Ihr seid ein gutes Team. Ich wünsche euch viel Erfolg.«
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In seinem Büro drückte er seinem Assistenten Oliver Hallstein die Mappe kommentarlos in die Hand. Hallstein drehte und wendete das einzige Blatt, dessen Rückseite nicht beschrieben war, sah auf dem Boden nach, als vermisse er etwas und blickte seinem Chef Albert gespannt in die Augen.
»Was sollen wir damit?«
»Ermitteln.«
»Wir ermitteln in einem Fall mit einem gekenterten Kanu und einem geklauten Moped?«
Ein Grinsen konnte Oliver Hallstein nicht vermeiden. »Hat sie dich degradiert? Nächste Woche Streife?«
Er lachte laut auf und tippte dabei Berendtsen mit der Mappe auf den Kopf.
»Und du sollst nachts den Polizeiparkplatz überwachen«, setzte Berendtsen das Spiel fort. »Im Ernst: Vera hat mich gebeten, dieser Frau Doktor einen Besuch abzustatten. Ich hätte dich gerne dabei. Hier habe ich ein Dokument, das wir dazu heften müssen. Es sind die Angaben der Frau Dr. Kötter, die Vera aus dem Gedächtnis niedergeschrieben hat.«
»Natürlich mache ich mit. Gerne sogar. Es liegt im Moment nichts anderes an. Mein Schreibtisch ist aufgeräumt. Deine QM-Blätter sind wie jedes Jahr fein säuberlich ausgefüllt und abgespeichert. Das hast du in diesem Jahr neu arrangiert, habe ich gesehen. Finde ich großartig! Erleichtert die Arbeit. Schön, dass du dich so gut auskennst. Was macht deine App, die du programmierst?«
»Habe nicht viel dran getan in der letzten Zeit. Erst müssen wir die Revision hinter uns gebracht haben.«
»Wie fangen wir an?«
Während er den schweren Locher zu sich drehte, ging ihm das Bild vom einsamen Parkplatzwächter in der Nacht durch den Kopf und er musste erneut laut lachen. Voller Übermut schlug er in alberner Weise mit der Faust kräftig auf den Hebel mit dem Erfolg, dass er wegen des ungenauen Schlags das Papier verschob und die Löcher nicht zu gebrauchen waren. Er versuchte es sogleich noch einmal sachlich und heftete Veras Blatt obenauf.
»Sooo … Das wäre dies! Wie gehen wir also vor?«
»Wir fahren auf die Blumenstraße und interviewen Frau Dr. Käthe Kötter. Außendienst bei schönem Wetter! Was wollen wir mehr? Weißt du, wo diese Adresse zu finden ist?«
Hallstein hatte es in seinem Handy gefunden. »Ich weiß, wo es ist. Ich kenne das Gelände.« Er schickte das Ziel an das Navigationssystem in seinem Wagen.
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Die beiden Kommissare machten sich auf den Weg nach Dorsten, Ortsteil Hervest, Blumenstraße 126. Hallstein steuerte, Berendtsen verteilte Gummibärchen. Wie immer standen sie vor der roten Ampel an der alten Lippebrücke.
»Hier muss es gewesen sein, Albert.« Hallstein zeigte seinem Kollegen das Flussufer und den Deich, von dem aus Frau Dr. Kötter das Unglück beobachtet hatte. »Dort auf der anderen Seite sind die beiden Bootshäuser.«
Berendtsen verschaffte sich einen Überblick.
Als sie nach dem schier endlos erscheinenden Gegenverkehr, der sich auf der anderen Seite der Ampel gebildet hatte, endlich losfahren konnten, hatte ein »Trottel«, wie Hallstein diese Art Fahrzeugführer zu nenne pflegte, den Kreuzungsbereich nicht freigehalten und ein endloses Rangieren erforderlich gemacht. Als sie schließlich von der Hauptstraße in den Wald abbiegen konnten, checkte Berendtsen auf seinem Smartphone die Umgebung.
»Wusstest du, Oliver, dass sich hier ein so großes Waldgebiet ausdehnt? Über die Hauptstraße bin ich oft schon gekommen, aber ich war noch niemals hier.« Ein weiteres Bärchen fand den Weg zwischen seine Zähne. Nach seiner neusten Marotte biss er sie durch und betrachtete den Querschnitt, ehe er sie vertilgte.
»Würde mich nicht wundern, wenn hier gleich ein Wolf auftaucht. Mit einem Körbchen im Maul samt Wein und Brot.«
»Und Gummibärchen«, ergänzte Oliver, »wenn Oma ihren Enkel kennt.«
»Scheint ›jwd‹ zu sein, wie der Berliner sagt.« Auf Olivers Blick hin ergänzte er: »Janz weit draußen. Es handelt sich vermutlich um eine Art Bauernhof.«
»Es gibt hier am Lippeufer eine Familie Kötter, die ein Trainingszentrum für Ruderer unterhält.« Er konzentrierte sich auf die Straße. Ein Unimog kam ihnen entgegen mit gelbem Blinklicht, gefolgt von einem Tieflader, der wegen seiner Überbreite ebenfalls auffällig beleuchtet war. »Habe ewig keinen Unimog mehr gesehen. Zuletzt bei der Bundeswehr. Das waren noch Zeiten … Dieses Zentrum hat einen guten Ruf«, fuhr er fort. »Sie haben den Achter der Baldeneyer auf ihrem Weg zur Deutschen Meisterschaft begleitet. Das war vor zwei Jahren. Im letzten Jahr habe sie sich in Kiel vorbereitet und sind nicht in den Endlauf gekommen. Soviel zu den Fähigkeiten. Allerdings muss ich eingestehen, dass vier Leute ausgewechselt worden waren. Der Leiter ist Professor Dr. Theodor Kötter, ein fähiger Kopf. War früher Dekan für Sport an der Kölner Uni. Als ›Streng, aber fähig‹ soll er bezeichnet worden sein. Der Familie werden große Reichtümer nachgesagt, sowohl auf dem Konto als auch an Immobilien.«
»Woher weißt du das, Oliver?«
»Es stand ein großer Bericht über den Mann in der Zeitung, als der ›RSV - Rudersportverein Essen Süd‹, wie sie sich nennen, die Meisterschaft gewonnen hatte. Außerdem wurde das Trainingszentrum an der Lippe im Aktuellen Sportstudio gezeigt. Kötter hat, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, in Köln Radprofis getrimmt. Zu Beginn seiner Laufbahn hat er den Radsportler Rudolf Decker im Rahmen seiner Doktorarbeit betreut. Als der sich auf der Tour de France das Gelbe Trikot überstreifen durfte, hat er sich öffentlich bei Kötter bedankt. Als Decker in dem Jahr auch noch Weltmeister auf der Straße wurde, war das der Durchbruch seiner Karriere. Was in der Welt der Radprofis auf sich hielt, trainierte unter seiner Leitung.«
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