Tracke rutsche mehr als er lief die Böschung zum Leinpfad hinunter und lief ein Stück in Richtung Brücke. Dabei schoss er mit seinem Smartphone einige Bilder.
»Das sind Reifenspuren von einem Kleinmotorrad,« rief er von unten hoch und hielt dabei die Aufnahmen in Richtung seines Kollegen Wehling und Frau Kötter.
»Konnten Sie Details der Kleidung erkennen, die der Kanute getragen hat?«, fragte Wehling.
»Es war ein Trikot mit kurzen Ärmeln, blutverschmiert. Viel mehr war nicht zu erkennen. Er trieb mehr unter als auf dem Wasser. Von Schwimmen kann man nicht reden, eher von unkoordinierten Armbewegungen.«
»Können Sie die Person beschreiben, die das Mofa gefahren hat?«
»Es war eine Vespa. Ich kann Ihnen die Person gern beschreiben: Jeans, schwarzes T-Shirt, Integralhelm. Das ist alles. Es wird Ihnen nichts nützen. Aber … ich erinnere mich an die Ziffern des Nummernschildes. Es war drei, drei, drei.«
»Wunderbar!«, lobte Wehling. Haben Sie vielleicht eine Erinnerung an die Farbe?«
»Blau, glaube ich, ja stahlblau mit diesem Kofferraum hinter dem Sozius.«
Wehling gab die Daten an die Verkehrspolizei durch. »Wehling, WSP Dorsten, ich benötige eine Halterabfrage für ein Motorrad. Es handelt sich um eine blaue Vespa mit Topcase. Recklinghäuser Nummer. Die dreistellige Ziffernfolge wird mit drei Dreien angegeben. Die mittleren Buchstaben sind unbekannt. Schicken Sie mir bitte die Daten auf mein Phone.« Wehling kratzte sich ausgiebig den Scheitel.
»Können Sie auch das Kanu beschreiben? Hatte es eine besondere auffällige Lackierung?«
»Rot. Der Rumpf des Kanus war überwiegend rot. Der Kiel war schwarz. Das Deck konnte ich aus bekannten Gründen nicht sehen. Über die ganze Seite zog sich ein grün-weißer Streifen hin.«
»Sie haben eine gute Beobachtungsgabe und ein Gedächtnis, das auch nach einem Schrecken noch funktioniert«, lobte Wehling.
Tracke blickte auf seine Uhr. »Sie haben den Notruf um 10:31 Uhr abgesetzt, wie ich aus dem Protokoll ersehe. Wir waren um 10:50 Uhr hier vor Ort. Jetzt ist es 11:15 Uhr. Wir sind zehn Minuten hier. Wann haben Sie den Mann entdeckt?«
»Es war kurz nach zehn Uhr. Die Schläge von Paulus habe ich noch gehört und die Zeit mit meiner Armbanduhr verglichen. Dann bin ich wohl eingenickt. Zwanzig Minuten habe ich gebraucht, bis ich zuhause war und telefonieren konnte.« Klara verwies auf ihre Gehhilfen.
»Wer ist Paulus?«, fragte Tracke
»St. Paulus ist die Kirche hier im Dorf.«
Tracke wurde ein wenig verlegen.
»Es ist leider viel Zeit verstrichen. Mehr als anderthalb Stunden.« Mit Blick auf den Fluss fuhr er fort: »Bei dieser Strömung ist er schon eine Strecke unterwegs. Wir müssen einen Suchtrupp anfordern.«
»Am besten mit Unterstützung eines Bootes. Tracke, würden Sie das bitte veranlassen?«
Tracke hatte die Rufnummern der Einsatzkommandos im Handy. Er verzog sich einige Meter und telefonierte mit Blick auf die Brücke.
»Es gibt hinter der Kurve eine Stromschnelle. Dort ist das Wasser flacher und in dem Lippebogen stehen viele Sträucher. Vielleicht haben Sie Glück, Herr Kommissar, und finden die Leiche dort.«
Wehling schätzte die Distanz auf fünfhundert Meter. Er überlegte einige Sekunden und machte sich mit zügigen Schritten auf den Weg. Tracke entschuldigte sich im Vorbeigehen bei Frau Kötter und spurtete hinterher. Klara stelzte in kleinen vorsichtigen Schritten das Pättken, das schon immer die Deichböschung hinunterführte, zu ihrem Haus zurück. Es war inzwischen ein gut begehbarer Sandweg, aber es hieß immer noch Pättken. Es hatte immer so geheißen. Im Garten wartete sie eine halbe Stunde auf die Rückkehrer.
»Vergebliche Mühe.« Wehling schnaubte mehrmals tief durch. Jogging war nicht sein Ding. Er transpirierte bereits und wedelte mit seiner Jacke, um sich etwas Luftzug zu verschaffen. »Das Kommando ist bestellt und wird in einer halben Stunde hier anrollen. Wir warten derweil im Auto«, erklärte er mit sehnsuchtsvollem Blick auf den Tisch im Schatten des Apfelbaums und der leichten Hoffnung auf ein Glas Wasser oder eine Tasse Kaffee im Garten, die er auch prompt angeboten bekam. Tracke bediente die Kaffeemaschine, Wehling trug das stilvolle Service mit blau-weißem Zwiebelmuster vorsichtig in den Garten.
»Leben Sie allein hier in dem großen Haus?«, fragte er beiläufig. »Ein schönes altes Haus.«
»Ich lebe mit meinem Mann zusammen. Wo er sich im Moment aufhält, weiß ich nicht. Er hat im Wohnzimmer telefoniert, als ich den Notruf gewählt habe. Während ich mit ihrer Kollegin telefoniert habe, ist er eilig an mir vorbei und mit dem Wagen weg. Ich habe versucht, ihn zu erreichen, aber leider geht er nicht an sein Handy.«
»Sie haben eine neue Hüfte?«, begann Wehling mit einem Smalltalk, um die Wartezeit zu überbrücken.
»Vor einer Woche bin ich aus dem Krankenhaus entlassen. Habe alles gut überstanden. Jetzt warte ich auf die Reha.«
»Wohin geht’s?«
»Bad Sassendorf.«
»Da war meine Mutter mit ihrem Knie. Wirklich gut.«
»Ich hoffe, die Leute dort machen mich wieder fit. Schmerzen habe ich keine.«
****
Die Bootsstreife benötigte weniger Zeit als angekündigt. Sie meldete sich und ließ sich von Wehling über die genauen Abläufe informieren. Während er noch die Situation beschrieb, sprintete er auf den Damm und bekam Sichtkontakt.
Beinahe zur gleichen Zeit hörten sie vor dem Haus einen Einsatzwagen anrollen. Kommandos wurden gebrüllt, Stiefel krachten, Geräte und Aufgaben wurden verteilt.
Klara Kötter schickte die Leute außen ums Haus herum auf den Deich.
Wehling besprach sich mit dem Einsatzleiter. Er wies dementsprechend seine Leute ein. Sie verteilten sich auf dem Damm und auf dem Leinpfad. Sie leisteten ganze Arbeit. Es blieb kein Strauch, kein Grashalm, den man nicht in Augenschein genommen hatte, zurück. Sie kämmten sich vorwärts.
Wehling kam zurück. In der Luft hörte man eine Drohne noch ehe sie sichtbar war. Über Sprechfunk informierte der Pilot dieses neu angeschafften Fluggeräts, der die Lage auf einem Bildschirm in der Größe eines iPads von oben beobachteten konnte, den Einsatzleiter indem er auf verschiedene Stellen hinwies, die genauer zu inspizieren waren. Er zoomte dazu den Ausschnitt des Bildes durch Fingerspreizung heran. Zwischendurch stieg Wehling auf den Damm, um den Fortgang zu beobachten. Die Bootsstreife kam zurück. Sie konnten wegen der Stromschnellen nicht weiter. Der Einsatzleiter kreuzte in der Ferne mehrfach seine Arme, wie ein Marshaller auf dem Flugplatz die Stäbe zu einem Stoppzeichen. Wehling gab das Zeichen an die Leute unter dem Apfelbaum weiter.
»Sie brechen ab!«, rief er vom Damm aus. Er stieg die Stufen hinab. »Sie haben nichts. Die Drohne hat ebenfalls ihre Reichweite ausgeschöpft. Es tut mir leid.«
»Er liegt auf dem Grund der Lippe«, vermutete Frau Kötter.
»Aber das Kanu geht nicht unter«, gab Wehling zu bedenken. »Es kann nicht sinken, auch wenn es kieloben treibt. Das müssten wir finden.«
Eine halbe Stunde später gab der Einsatzleiter den Befehl zum Abrücken. Wehling begleitete ihn zum Wagen.
»Gibt es irgendeinen Hinweis, ob es wirklich einen Unfall oder einen Toten gab? Vielleicht ist der Kanute versehentlich aus dem Boot gefallen und danach weitergepaddelt?«
»Alles möglich und bestimmt auch schon dagewesen, aber die Frau ist praktizierende Ärztin und noch voll dabei. Will sagen … Frau Kötter hinterlässt keinen senilen Eindruck. Die Spuren des erwähnten Kleinmotorrades haben sich bestätigt. Wir haben sie fotografiert.« Er wollte die Kamera hervorholen, aber Wehling winkte ab. Er hatte sie bereits auf Trackes Smartphone gesehen.
»Ich gebe Ihnen recht. Anhaltspunkte für ein Verbrechen gibt es jedoch nicht?«
Читать дальше