Halten wir diese Frage für einen Moment in der Schwebe, dann können wir konstatieren, dass sich auf dem Gebiet des heutigen Rumäniens drei Landschaften entwickelten, aus denen erst sehr viel später der Staat Rumänien entstehen sollte: (1) die Walachei im Umkreis der späteren Hauptstadt Bukarest, (2) die Moldaufürstentümer im Norden an der Grenze zur späteren Ukraine und (3) das hart umkämpfte Siebenbürgen, in dem Ungarn, Deutsche und Rumänen in einer spannungsreichen Koexistenz siedelten.
Jede dieser drei Landesteile besitzt eine jahrhundertelange und komplizierte Geschichte, bei denen jedem die Ohren flattern, wenn er sich nur ein wenig genauer auf sie einlässt. Das kann an dieser Stelle natürlich nicht geschehen, einige allgemeine Hinweise müssen genügen. Die Geschichte der Walachei, der Moldaufürstentümer und Siebenbürgens im späten Mittelalter ist eine Geschichte des Kampfes gegen die Türken. Diesem heroischen Abwehrkampf der drei Landesteile, der wie bei Ungarn, Serben und Bulgarien letztlich erfolglos blieb, entnehmen die Rumänen den Großteil ihrer Heldengeschichten. Wer kennt schon Mircea den Alten oder Stefan den Großen, die sich wacker um die Unabhängigkeit ihrer Territorien bemühten? Bekannter ist schon der walachische Wojwode Vlad III Țepeș, der als „der Pfähler“ zum Schrecken der Türken wurde, ehe er im späten 19. Jahrhundert zur Vorlage der Dracula Geschichten avancierte.
Am Ende aber war alles für die Katz. Die Walachei, die Moldaufürstentümer, Siebenbürgen und fast ganz Ungarn verschwanden im transkontinentalen osmanischen Riesenreich. Erst im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert gelang den Habsburgern die Befreiung Siebenbürgens, das zu einem integralen Bestandteil der wiedererstandenen ungarischen Monarchie wurde. Die Walachei und die Moldaufürstentümer aber mussten noch bis ins 19. Jahrhundert warten, bis im Zuge des langsamen Zusammenbruchs des osmanischen Reiches nicht nur Serbien und Bulgarien, sondern endlich auch die Walachei und die Moldau unabhängig wurden. Beide vereinigten sich 1866 unter König Carol I zum ersten unabhängigen Königreich Rumänien.
Nach dem Ende des ersten Weltkrieges, der zur Zerschlagung der ungarischen Monarchie führte, kamen Siebenbürgen und das Gebiet des heutigen Moldawiens im Norden hinzu. Damit hatte Rumänien seine größte Ausdehnung erreicht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor Rumänien zwar Moldawien an die Sowjetunion, behielt aber zur Empörung der Ungarn das Siebenbürger Land. Viel folgenreicher war, dass Rumänien in eine kommunistische Volksrepublik umgewandelt wurde, und zwar eine der schlimmsten, die es jemals gegeben hat. Unter der größenwahnsinnigen Diktatur des Ceausescu-Clans verwahrlosten Staat, Gesellschaft und Infrastruktur. Überall in Mittel- und Osteuropa hat der Kommunismus die Völker bis an den Rand der kulturellen Auslöschung getrieben, nirgendwo aber so exzessiv wie in Rumänien.
Dementsprechend blutig war auch das Finale. Während in Berlin die Mauer fiel und der Kommunismus in den meisten Ländern des Ostblocks relativ gewaltlos implodierte, war der Umsturz in Rumänien von blutigen Massakern begleitet. Eine fragile Demokratie entstand, in der zum Entsetzen der einfachen Leute die Ex-Kommunisten, nun als Sozialisten „gewendet“, das Land weiter nach allen Regeln der Kunst ausbeuteten.
Der Beitritt Rumänien zur europäischen Union, sollte diesen Prozess stoppen und das Land in demokratischeres Fahrwasser führen, eine fromme Hoffnung, die sich nicht erfüllte. Im Gegenteil: die Förder-Milliarden, die aus Brüssel nach Rumänien flossen, haben exkommunistische Seilschaften und korrupte Geschäftemacher gleichermaßen auf Kosten der Allgemeinheit bereichert. Auf internationalen Korruptionsindizes rangiert Rumänien inzwischen irgendwo zwischen afrikanischen und lateinamerikanischen Halbdiktaturen. Das ist umso bedauerlicher, als die auf mittlerweile auf über 20 Millionen Menschen angewachsene rumänische Bevölkerung erstaunliche Begabungsreserven aufweist, die sich im Land aber nur unzureichend entfalten können. Kein Wunder, dass Zehntausende begabter junge Rumänen das Land in Richtung Westen verlassen, um dort ihr Glück zu suchen.
Im Unterschied zu den meisten Ländern, die in diesem Buch beschrieben werden, war ich in Rumänien immer wieder unterwegs und habe im Verlauf von über 25 Jahren alle Regionen des Landes, zum Teil mehrfach, bereist. Deswegen folgt dieser Buchteil nicht einem einzigen Reiseverlauf, sondern beschreibt systematisch die einzelnen Landesteile, die ich nach diversen Grenzübertritten oder von Bukarest aus besuchte.
Die gesamtrumänische Tour beginnt mit der Einreise in das Banat, der ehemals deutsch besiedelten Provinz im Nordwesten Rumäniens. Es folgen die Passagen des Donaudurchbruchs und die Durchquerung der Walachei - und schließlich Bukarest, das sogenannte „Paris des Ostens“, das dem Rest des Landes im Positiven wie im Negativen so weit vorauseilt. Von Bukarest oder Peștera aus habe ich mehrfach Siebenbürgen und Marmaruses erkundet, bis meine rumänische Reise in der nördlichen Dobrudscha, am Schwarzen Meer und im grandiosen Donaudelta ihren Abschluss fand.
Platz der Einheit und Platz der Revolution in Temswar
Die Stadt,
in der die Revolution ausbrach
In Temeswar,
der Hauptstadt des Banat
Seit Wochen lag eine Bullenhitze über dem gesamten Donauraum. Hochsommerliches Steppenklima hatte sich in das Zentrum Europas verirrt. In Belgrad und Budapest war das Wasser knapp geworden, und die ersten Bewässerungsanlagen waren bereits versickert. Ich durchfuhr Südungarn auf dem Weg nach Temeswar und erblickte vertrocknete Gärten innerhalb umzäunter Höfe. Auf den staubigen Dorfstraßen fuhren die Männer auf ihren Fahrrädern mit freiem Oberkörper umher. Hin und wieder standen Bauersfrauen mit ihren Melonen, Pflaumen und Apfelsinen am Wegesrand. Es war noch keine 11:00 Uhr und bereits 35 Grad Celsius.
An der ungarisch-rumänischen Grenze war wenig los. Wo sich jahrhundertelang Ungarn und Rumänen angefeindet hatten, war europäischer Friede eingekehrt. Lässig wurde ich durchgewunken. Willkommen in Rumänien. Willkommen im Banat.
Knapp dreißigtausend Quadratkilometer umfasste das Banat, eine der zentralen europäischen Kulturlandschaften, die nach dem Ersten Weltkrieg zwischen Serbien und Rumänien geteilt wurde. Flach wie eine Flunder erstreckte sich die Landschaft bis zum Horizont. Die Hitze flimmerte über dem Asphalt, und auf den abgeernteten Feldern verdorrten die Stoppeln.
Hier und da sah ich Bauernhöfe, über denen die deutsche Fahne wehte. Schwarzrotgold in der westlichsten Provinz Rumäniens. Eine Werbeaktion, mit der die Landwirte durchreisende Touristen aus Deutschland auf ihre Höfe locken wollten, um ihnen Obst und Gemüse zu verkaufen. Tatsächlich waren viele Deutsche auf den Durchgangsstraßen unterwegs. Sie durchquerten eine Region, in der einst Hunderttausende Deutsche gelebt hatten, die inzwischen fast vollständig verschwunden waren. Einst waren sie als „Banater Schwaben“ die bedeutendste Volksgruppe des Banat gewesen, dann hatte sie die Geschichte zermalmt.
Die Geschichte des Banat aber reichte weit hinter die Epoche der deutschen Einwanderung zurück. Die flache Ebene zwischen Donau und Südkarpaten, gleichsam der Türspalt, durch den asiatische Reitervölker an den Karpaten vorbei in das Herz Europas vordringen konnten, war im frühen Mittelalter das Durchzugsgebiet von Hunnen, Awaren, Ungarn und Petschenegen gewesen. Dann hatte der Überfall der Mongolen 1241 die gesamte Region entvölkert. Seitdem war die Geschichte des Banat eigentlich nur noch eine Zuwanderungsgeschichte.
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