Peter Lemar
Wilder Osten
Geschichten aus der DDR
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Inhaltsverzeichnis
Titel Peter Lemar Wilder Osten Geschichten aus der DDR Dieses ebook wurde erstellt bei
Ein Kind ohne Namen Ein Kind ohne Namen Alles fing damit an, dass ich keinen Namen hatte. Normalerweise hat jedes Kind, wenn es geboren wird, einen Vornamen. Doch bei mir war das anders: Ich hatte keinen. Ich war von Anfang an ein Sonderfall. Dementsprechend waren die Umstände, die mich sozusagen vom Namenlosen zum Namhaften machten. Man schrieb das Jahr 1958. Das war das Jahr, in dem die Sowjetunion gerade den Viermächtestatus aufgekündigt hatte. Berlin sollte innerhalb von sechs Monaten in einen neutralen Stadtstaat umgewandelt werden. Andernfalls wollte die Sowjetunion die Kontrolle der Zufahrtswege von und nach Berlin der DDR übertragen, was jedoch ebenso wenig funktionierte wie die Berlinblockade zu Zeiten des Kalten Krieges, wo die Russen schon mal versucht hatten, den Rückzug der Westalliierten aus Berlin zu erzwingen. Auch das war misslungen, weil der Westteil der Stadt über eine Luftbrücke versorgt wurde – bis Stalin nach fast einem Jahr alle Sperren aufhob. Also 1958 befanden sich meine Eltern noch in ihrer Facharztausbildung. Prüfungen und Klausuren standen an, und so war die gesamte Situation, die mich nach meiner Geburt erwarten würde, ebenso unklar und geteilt wie die politische Großwetterlage in und um Berlin. Eine Lösung musste her. Was mich betraf, so hatten sich meine Eltern auf einen Namen nicht einigen können. Auf dem Geburtsschein stand lediglich der Familienname, kein Vorname. Es bedurfte erst eines Winks mit dem Zaunspfahl, dass das “Namensultimatum“ noch erfüllt wurde. Denn auf der Entbindungsstation der Frauenklinik, genau auf dem Zimmer, wo meine Mutter lag, lag auch eine Frau, die bereits Mutter war. Einmal rief sie vom Fenster aus ihren etwa fünfjährigen Sohn, der im Vorhof der Klinik herumtollte, weil er zur Besuchszeit nicht mit auf die Station durfte. Immer wieder rief sie seinen Namen: Elmar! Elmar!! Elmar!!! Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass ich schließlich doch noch – sozusagen über drei Ecken – zu meinem Namen kam.
Walter Ulbricht und die Lebensmittel
Seid bereit! Immer bereit!
Zur Messe
Mein Freund Thomas
Chemie Leipzig
Die Sportlerumfrage
Bei der NVA
Not macht erfinderisch
Eine sozialistische Lehrerpersönlichkeit
Eine Musikerkarriere
Back in the U.S.S.R.
Paul & Conny
Wir sind das Volk!
Begrüßungsgeld
Schlaraffenland
Wilder Osten
Willi Brandt und der Smaragd
Epilog
Impressum neobooks
Alles fing damit an, dass ich keinen Namen hatte. Normalerweise hat jedes Kind, wenn es geboren wird, einen Vornamen. Doch bei mir war das anders: Ich hatte keinen. Ich war von Anfang an ein Sonderfall. Dementsprechend waren die Umstände, die mich sozusagen vom Namenlosen zum Namhaften machten. Man schrieb das Jahr 1958. Das war das Jahr, in dem die Sowjetunion gerade den Viermächtestatus aufgekündigt hatte. Berlin sollte innerhalb von sechs Monaten in einen neutralen Stadtstaat umgewandelt werden. Andernfalls wollte die Sowjetunion die Kontrolle der Zufahrtswege von und nach Berlin der DDR übertragen, was jedoch ebenso wenig funktionierte wie die Berlinblockade zu Zeiten des Kalten Krieges, wo die Russen schon mal versucht hatten, den Rückzug der Westalliierten aus Berlin zu erzwingen. Auch das war misslungen, weil der Westteil der Stadt über eine Luftbrücke versorgt wurde – bis Stalin nach fast einem Jahr alle Sperren aufhob.
Also 1958 befanden sich meine Eltern noch in ihrer Facharztausbildung. Prüfungen und Klausuren standen an, und so war die gesamte Situation, die mich nach meiner Geburt erwarten würde, ebenso unklar und geteilt wie die politische Großwetterlage in und um Berlin. Eine Lösung musste her. Was mich betraf, so hatten sich meine Eltern auf einen Namen nicht einigen können. Auf dem Geburtsschein stand lediglich der Familienname, kein Vorname. Es bedurfte erst eines Winks mit dem Zaunspfahl, dass das “Namensultimatum“ noch erfüllt wurde. Denn auf der Entbindungsstation der Frauenklinik, genau auf dem Zimmer, wo meine Mutter lag, lag auch eine Frau, die bereits Mutter war. Einmal rief sie vom Fenster aus ihren etwa fünfjährigen Sohn, der im Vorhof der Klinik herumtollte, weil er zur Besuchszeit nicht mit auf die Station durfte. Immer wieder rief sie seinen Namen: Elmar! Elmar!! Elmar!!! Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass ich schließlich doch noch – sozusagen über drei Ecken – zu meinem Namen kam.
Walter Ulbricht und die Lebensmittel
Der Staatsratsvorsitzende zu dieser Zeit hieß Walter Ulbricht 1. Eins seiner Markenzeichen war seine hohe und heisere Fistelstimme. Mit ebendieser Stimme hatte er zum Beispiel wenige Wochen vor dem 13. August 1961 gesagt: „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten“, was überhaupt nicht stimmte, denn kurz darauf war sie mit einem Schlag da. Ein anderer, oft zitierter Satz von ihm war: Jedermann an jedem Ort in der Woche einmal Sport . Das war eine unmissverständliche Aufforderung zur Körperertüchtigung, denn der Aufbau des Sozialismus erforderte starke und widerstandsfähige sozialistische Persönlichkeiten. Deshalb sorgte sich Walter Ulbricht an vorderster Front um das körperliche Wohl seiner Bürger. Und er selber ging mit gutem Beispiel voran. Es gab kaum eine Zeitung oder Zeitschrift, kaum einen Augenzeuge n – die DDR-Wochenschau –, wo Walter Ulbricht nicht bei irgendwelchen sportlichen Aktivitäten zu sehen war. Überhaupt war man sichtlich darum bemüht, ihn von seiner menschlichen Seite zu zeigen, ganz nach dem Vorbild seines Kollegen aus Amerika. Fast hätte man den Eindruck gewinnen können, Ulbricht sei der kleine Bruder von Kennedy, was natürlich ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre. Dafür war Ulbricht in der DDR mindestens genauso mächtig. Er war nicht nur Vorsitzender des Staatsrates, sondern auch 1. Sekretärs des Zentralkomitees der SED und Vorsitzender des Verteidigungsrates. Und irgendwann wurde sein sportlicher Satz auf „in der Woche mehrmals Sport“ erweitert – sozusagen als Steigerungsform. Schließlich sollten sich die DDR-Bürger nicht all zu lange auf ihren Lorbeeren ausruhen dürfen. Ein zweites Markenzeichen von ihm war sein Bart. Kein normaler Bart, sondern ein Spitzbart. Im Kindergarten bekamen wir nun stets zu hören und auf Bildern zu sehen, wie toll Walter Ulbricht war. Vielleicht habe ich ihn sogar im Fernsehen gesehen, denn meine Eltern hatten seit 1961 einen Fernseher, jedenfalls war ich von Walter Ulbricht so begeistert, dass ich auf der Straße Männer mit Bart ansprach. Ich zeigte auf sie und sagte zum Leidwesen aller Beteiligten: „Walter Ubricht!“ Immer wieder, wobei ich das ‚l’ vor Aufregung unterschlug. Ich war eben ein lebhaftes Kind. Aber da war noch etwas anderes. Ich weiß noch, dass wir im Kindergarten viel mit Bauklötzern spielten. Naturgemäß vielen dabei Türme um und Häuser ein, und es ging dann darum, Menschen, die dabei zu Tode gekommen waren, wieder zum Leben zu erwecken. Die bekamen dann ganz einfach ein Lebensmittel. Dieses Wort Lebensmittel hatte ich von den Erwachsenen schon des öfteren gehört. Ich kannte es und maß ihm die Bedeutung bei, die mir aus kindlicher Sicht am naheliegendsten erschien. Nach meinem Empfinden war ein Lebensmittel ein ganz besonderes Mittel, eben im wahrsten Sinne des Wortes ein Lebenstrank, der Tote wieder aufweckt. Für mich war das klar. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass das etwas ganz anderes, ganz Alltägliches, bedeuten könnte. Bis dann irgendeiner meiner Spielkameraden meinte, diese Mittel gäbe es in ganz normalen Läden zu kaufen. Jeder könnte sie kaufen. Lebensmittel wären ganz einfach die Dinge, die man essen und trinken kann um am Leben zu bleiben. Ich war enttäuscht. Ich fand diesen Begriff unpassend und irreführend. Aber was will man machen, wenn es eben so ist wie es ist.
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