Erneut war man auf der Flucht und stieß durch Zufall, vor rund zweihundert Jahren, auf den Planeten Hiveen, der von den Eingeborenen Negaruyen genannt wurde. Wäre der Antrieb des Schiffes nicht defekt gewesen, wäre man wohl weitergeflogen, doch es gab keine Alternative zur Landung, wollte man überleben.
Fast zwei Drittel der Gemeinschaft überlebten nicht, denn die Umgebung war lebensfeindlich und die Eingeborenen feindselig, da man sich noch nicht mit ihnen verständigen konnte. Die Angehörigen der Bruderschaft retteten sich in das Ringgebirge und konnten es, dank ihrer überlegenen Technik, gegen die Negaruyen verteidigen. Es gab erste Verständigungen, einen einsetzenden Tausch von Lebensmitteln gegen technische Spielereien und schließlich entstand ein Handel, der zu einer friedlichen Koexistenz führte. Inzwischen respektierte man einander. Das Wissen der Menschen ermöglichte es den Negaruyen, ihre Wasserstädte effektiver zu gestalten und auszubauen, so dass ihr Volk wieder wachsen konnte. Im Gegenzug ermöglichte man den Menschen den Zugang zu den Ressourcen des Planeten und stellte ihnen Arbeitskräfte.
Wer auch immer für den Überfall auf ihre alte Welt verantwortlich gewesen war, er hatte einen unbändigen Hass gesät. Als die Gemeinschaft der Kreise erneut den Weltraum eroberte, war sie entschlossen, sich für das einstige Morden zu rächen. Unerkannt bewegten sich die Angehörigen der schwarzen Bruderschaft unter den übrigen Menschen, nahmen Wissen und Waren, und was sie nicht durch Handel erlangte, das nahm sie sich mit Gewalt.
Nach all den Jahren spielte die Schuldfrage keine Rolle mehr. Die Führungsebene der Bruderschaft ließ inzwischen keinen Zweifel daran, dass man einst nicht wegen der Umweltzerstörung von der Erde geflohen, sondern von dieser vertrieben worden sei. Innerhalb der Kreise stellte man keine Fragen. Von Kindesbeinen an wurde das Leben darauf ausgerichtet, sich an der übrigen Menschheit zu rächen.
Jean Baptiste Lisenne gehörte zur obersten Ebene der Kreise. Ihm waren Informationen zugänglich, die anderen vorbehalten blieben. Vor allem die Rettungsmission des Direktorats für das Volk der Hanari hatte seine Meinung ins Wanken gebracht. Eine Menschheit, die sich derart uneigennützig für den Erhalt einer Alien-Rasse einsetzte, passte nicht in das Bild einer rücksichtslosen Diktatur. Lisenne zweifelte nicht daran, dass man der Bruderschaft Unrecht getan hatte, aber er sah nun zunehmend die Gefahr, dass die Kreise dabei waren, selber Unrecht zu begehen. Seitdem er die Bilder der Katastrophe auf Neijmark gesehen hatte, die durch den gezielten Absturz eines Raumschiffes auf die Stadt herbeigeführt worden war, begann er zu zweifeln. Das Direktorat und sein Militär zu bekämpfen, war sicherlich rechtens, doch die Ermordung einfacher Bürger war der falsche Weg, Rache zu üben.
„Verbündete …“, nahm Lisenne den Faden des Gesprächs wieder auf. „Gaukeln wir den Eingeborenen nicht vor, sie seien unsere Verbündeten, während wir sie in Wahrheit nur benutzen?“
„Wir müssen alle verfügbaren Mittel einsetzen, um das Direktorat erfolgreich zu bekämpfen“, sagte Fighteneral Woronzev im Brustton der Überzeugung. „Wir stehen alleine und haben keine andere Wahl.“
„Ja, wir stehen alleine.“ Lisenne lächelte halbherzig. „Sollte es uns nicht zu denken geben, dass dies nicht für das Direktorat gilt? Das Direktorat besteht nicht alleine aus dem Mars. Alle besiedelten Welten sind im Hohen Rat des Direktorats vertreten. Die Streitkräfte bestehen aus Menschen, die von allen Kolonien stammen.“
Bettany Swan sah Lisenne forschend an. „Ich bekomme das Gefühl, Erster des sechsten Kreises, dass Sie an der Bruderschaft zweifeln.“
„Dem kann ich nur zustimmen.“ Woronzev´s Blick war drohend. „Als Erster sollten Sie die Interessen der Kreise vertreten, statt die oberste Maxime in Frage zu stellen.“
Jean Baptiste Lisenne wurde nun ein wenig bleich. „Niemand stellt die oberste Maxime in Frage. Aber als Erster des sechsten Kreises ist es meine Pflicht, alle Faktoren abzuwägen.“
Harama kam in die Bibliothek zurück und deutete eine Verbeugung an. „Herr, es ist an der Zeit.“
Lisenne nickte, erleichtert über die Unterbrechung. „Du wirst dich nun zurückziehen, Harama.“
Die junge Negaruyen verschränkte die Arme vor der Brust, verbeugte sich erneut und verließ den Raum.
Lisenne wartete, bis sich die Tür der Bibliothek schloss. Swan und Woronzev sahen zu, wie er zu einer der Glasvitrinen ging, in der ein ledergebundenes Buch lag. Der Erste legte seine Handfläche an das Glas. Farbige Muster liefen über die Fläche. Die Vorderseite der Vitrine wurde schwarz und ein weißer Totenkopf mit darunter gekreuzten Knochen erschien. Zwei dünne weiße Kreise formten sich um das alte Piratensymbol, die gemächlich und in entgegengesetzten Richtungen um ihre senkrechten Achsen rotierten.
Jean Baptiste Lisenne wartete geduldig. Der von ihm entwickelte Hiromata-Sender suchte nun nach den Gegenstationen und würde deren Identifikationen abgleichen.
„Verdammt, warum dauert das so lange?“, murrte Woronzev ungeduldig.
„Haben Sie Zweifel an der Zuverlässigkeit des Ersten des ersten Kreises?“ Lisenne konnte sich diese kleine Spitze einfach nicht verkneifen. „Der Erste des Ersten wird sich mit allen Kreisen in Verbindung setzen. Die Synchronisation dauert nun einmal eine gewisse Zeit.“
Woronzev errötete und wartete nun schweigend, doch das unmerkliche Wippen auf den Fersen verriet die Ungeduld des Offiziers.
Die beiden Ringe hörten auf zu rotieren. Eine geschlechtslose Stimme ertönte. „Der Erste des ersten Kreises an alle Kreise: Aktivieren Sie die Zerhacker und schließen Sie die Synchronisation ab.“
Lisenne legte die Handfläche erneut an die Glasfläche und tippte mit der freien Hand ein paar Eingaben in seinen Mini-Comp. Außerhalb der beiden Ringe erschien nun ein dritter. Seine Konturen waren zunächst verschwommen, wurden dann jedoch scharf.
„Erster des sechsten Kreises an alle Kreise: Synchronisation abgeschlossen. Zerhacker und Codierung sind aktiv.“
Weitere Bestätigungen waren zu hören. Über dem Totenkopfsymbol erschienen sieben winzige Kreise. Fünf von ihnen strahlten weiß, zwei von ihnen, die des zweiten und dritten Kreises, blieben dunkel und zeigten an, dass keine Verbindung bestand. Dies waren jene Sektionen der Bruderschaft, die vom Direktorat vernichtet worden waren.
Das Symbol verschwand. Stattdessen wurde inmitten der großen Ringe der Ausschnitt eines Raumes sichtbar. Eine schattengleiche Gestalt saß an einer Konsole. Nichts wies auf die Identität der Person oder den Ort hin.
„Der Erste des ersten Kreises an alle Ersten der Kreise, seid gegrüßt. Dies ist ein besonderer Tag in der Geschichte der schwarzen Bruderschaft, denn an diesem Tag werden wir über die Zukunft unserer Gemeinschaft entscheiden. Mit dem Verlust des zweiten und des dritten Kreises wurden wir im doppelten Sinn geschwächt. Eine wichtige Handels- und Informationsquelle wurde uns genommen und der Feind weiß nun von unserer Existenz. Auch wenn ihm unsere Ziele unbekannt sind, so wird er nun alles daransetzen, uns ausfindig zu machen und uns zu vernichten.“ Die Stimme schwieg einen Moment und ließ die Worte einwirken. Lisenne sah Woronzev und Swan bedeutungsvoll an. Der Erste fuhr fort. „Der Feind hat mehr Schiffe. Er hat mehr Truppen. Er hat mehr Ressourcen und Kapazitäten. Je länger wir warten, desto größer wird die Überlegenheit des Feindes. Daraus lässt sich nur eines folgern: Wir müssen zuschlagen, bevor der Feind dies tut. Erster des sechsten Kreises, ich sehe Fighteneral Woronzev in Ihrer Begleitung. Fighteneral, wie ist der aktuelle Stand unserer Flotte?“
„Dreiundzwanzig schwere Kreuzer und vierundsechzig leichte. Dazu sieben bewaffnete Handelsschiffe.“ Woronzev lächelte. „Sowie ein Trägerschlachtschiff.“
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