Aufmunternd lachte Marie ihrer Mutter aus dem Rückspiegel entgegen. Doch Claires Mundwinkel verzogen sich keinen Millimeter nach oben. „Ich denke, auf die Erfahrung, mich von oben bis unten mit Essen voll zu kleckern, kann ich gerne noch ein oder zwei Jahrzehnte verzichten. Mit dem Alter kommt das unweigerlich.“
„Ach Mama ...“, seufzte ihre jüngere Tochter.
„Ach Marie, ich weiß wie Amerika ist. Wie du dich sicher erinnerst, fahre ich nicht zum ersten Mal in die USA. Dein Vater vielleicht, aber ich nicht.“
Marie überholte rasant einen LKW und setzte dann die Diskussion mit ihrer Mutter fort. „Ich erinnere mich. Da gab es mal ein Leben ohne deine wundervollen Töchter, indem du die Welt von Nord nach Süd und von West nach Ost bereist hast.“
„Ja, Claire,“ warf Paul ein, „aber Zeit, dir die Städte genauer anzuschauen, hattest du damals nicht. Keine Sorge, das holen wir jetzt gemeinsam nach.“
Sie fuhren gerade am Frankfurter Kreuz von der Autobahn ab, als Marie zum Thema Amerika noch etwas einfiel: „Lediglich die Einreise hat ein wenig länger gedauert. Die Amis sind da schon sehr penibel, wen sie in ihr gelobtes Land hereinlassen.“
„Du hattest Probleme?“, hakte Claire nach, „davon hast du nie was erzählt, Schatz.“
„Aber Mama, doch nur bei der Einreise. Und das stellte sich schnell als Systemfehler oder so was ähnliches heraus. Also kein Grund zur Aufregung.“
Im Flieger war es mittlerweile ruhig geworden. Hier und da vernahm Paul ein Grunzen oder lautes Schnarchen. Aber davon abgesehen, war es friedlich an Bord. Paul genoss diese Ruhe. Die letzten zwei Wochen hatten ihn sehr aufgewühlt. Das würde er vor Claire niemals zugeben. Seine Ehefrau wirkte in den letzten Vierzehn Tagen, trotz ihrer wöchentlichen Yoga-Stunden, wie das Duracell-Häschen. Wenn ihre Nervosität auf dem Höhepunkt schien, griff Claire zum Hörer und telefonierte mit ihrer Schwester in der Schweiz. Zumindest nahm Paul an, dass Claire mit ihrer Schwester sprach. Denn wen sonst, wenn nicht ihre Schwester, sollte Claire in der Schweiz kontaktieren? Nur mit Estelle sprach sie Französisch. Dann schossen die Wörter aus ihrem Mund heraus. Wie die Salven eines Maschinengewehrs. Paul verlor bei dem Tempo jegliches Interesse, dem Gespräch zu folgen. Er gähnte und überlegte, ob er ein wenig im Reiseführer lesen sollte. Seitenweise hatte er zu Hause bereits die Reiseliteratur zur Ostküste Amerikas gewälzt, um mit dem Reisebüro die endgültige Route sowie die Flüge abzustimmen. Seine Kollegen ließen es sich nicht nehmen, ihm zum Abschied den Mietwagen in New York zu schenken. Er war etwas in Sorge, was für ein Gefährt ihn erwarten würde. Seine Kollegen feixten und lachten, als sie ihm feierlich den Gutschein von der Mietwagenfirma in die Hand drückten. Mit dem Abschied aus der Firma beschloss Paul, sich mehr den unvorhergesehenen Dingen des Lebens zu widmen. Die letzten Jahre konnte er sich mit Überraschungen, welcher Art auch immer, nicht anfreunden. Im Gegenteil. Sein Leben als Familienvater musste planbar und überschaubar sein. Feste Regeln und Rituale waren ihm wichtig. Privat wie beruflich. Er freute sich bereits mittwochs auf die frischen Brötchen, die er jeden Samstag beim Bäcker kaufte. Dann frühstückten Claire und er ausgiebig und teilten sich die Wochenendausgabe des Mannheimer Morgen. Im Job sah es ähnlich aus. Am Ende eines Monats standen die Abschlüsse auf dem Programm. Die Bilanz erstellte sich nicht von. Sein Leben in den letzten Jahrzehnten war gradlinig und vorhersehbar. Es verlief nach Pauls Geschmack. Aber die Zeiten standen auf Veränderung. Mit seinen sechzig Lenzen spürte er diesen unwiderstehlichen Drang nach Neuem, nach unentdeckten Land, nach weißen Flecken auf seiner Landkarte. Paul warf einen Blick aus dem Fenster. Er freute sich auf das Abenteuer, genoss das Kribbeln in seinem Bauch und die Sehnsucht nach dem Unerwarteten. „Rentnerdasein pass´ auf, Paul kommt“, ging es ihm durch den Kopf, bevor die Müdigkeit Besitz von seinem Körper ergriff.
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