„Deine Kinder sind erwachsen. Und wenn sie Hilfe brauchen, dann kommen sie angerannt. Keine Sorge.“
Paul wandte sich wieder seiner Pute zu und blickte durch den Plastikdeckel auf ein fein geschnittenes Stück helles Fleisch. Sein Flugzeugessen sah nicht schlecht aus und beim Öffnen der unhandlichen Plastikverpackung stieg ihm ein angenehmer Duft in die Nase. Selbst die Minigurken und kleinen Tomaten erfreuten sich einer erstaunlich knackigen Qualität. Paul spießte ein Stück Pute auf und schob es sich schwungvoll in den Mund. Eine Geschmacksüberraschung breitete sich in seinem Mund aus.
„Mensch Claire, das schmeckt ja.“
„Was hast du erwartet? Panierte Pappe?“
Paul entging der sarkastische Unterton in Claires Stimme nicht. Ihre Gemütsschwankungen waren in den letzten Wochen unberechenbar gewesen. Dabei war Claire selbst in ihren Wechseljahren eine Ausgeburt an Sorglosigkeit. Obwohl Paul sich auf eine hormonelle Berg- und Talfahrt eingestellt hatte. Doch Claire überrascht ihn ein ums andere Mal.
Hitzewallungen, Stimmungsschwankungen oder Schlafstörungen blieben aus. Seine Ehefrau ging förmlich in ihrer Yoga-Ausbildung auf, die sie bisweilen für eine Woche aus der häuslichen Umgebung fortlockte. Claires Abwesenheit nutzte Paul, um seine Vater-Tochter Beziehung zu stärken. Vicky und Marie waren damals siebzehn und fünfzehn Jahre alt und somit dem Gröbsten entwachsen. Gemeinsam saßen sie abends vor dem Fernseher mit Pizza vom Lieferdienst auf den Schoß. Paul ging sogar mit seinen Töchtern auf der Mannheimer Einkaufsmeile, den Planken, shoppen. Aus dieser Zeit besaß er noch heute einen orangefarbenen Pullover, zu dem ihn seine Töchter überredet hatten. Seit mehr als einem Jahrzehnt vermoderte das gute Stück in Pauls Kleiderschrank.
Seiner Ehefrau gönnte er die Auszeit von der Familie, kam Claire doch stets ausgeglichen und überraschend ausgehungert nach Sex von ihren Yoga-Wochenenden zurück. Dann umgarnte sie Paul wie eine Katze. Sie flüsterte ihm in der Küche kleine Unanständigkeiten ins Ohr und ließ die Finger nicht von seinem Po. Von Lustlosigkeit in den Wechseljahren war weit und breit keine Spur. Dafür schien seine Ehefrau in den letzten sechs Wochen sämtliche Gemütsschwankungen aus dieser weiblichen Lebensphase nachgeholt zu haben. Sie ließ keinen Vorwand aus, um nicht ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu reisen.
„Ich will aber nicht extra wegen den blöden Amerikanern einen neuen Reisepass. Meiner ist noch gut. Erst acht Jahre alt, kaum gebraucht und teuer war er auch,“ beschwerte sie sich bei Paul. Dieses Argument ließ er jedoch nicht gelten. „Die Zeiten ändern sich und wir benötigen neue Pässe. Nun komm´ schon.“
„Dafür müssen wir jetzt extra in die Innenstadt fahren,“ versuchte Claire, ihrem Unwillen Ausdruck zu verleihen.
„Das schreckliche Los der Bevölkerung aus Vorstädten“, erwiderte Paul und schnappte sich an diesem kühlen Januartag seine blaue Wollmütze.
„Ich sehe immer so schrecklich aus auf Passbildern. Meine Passbilder schreien förmlich nach ‚Verbrecher und Gangster‘.“
„Und wenn ich dich anschließend ins Café Herrdegen in die Innenstadt einlade? Zu Kaffee und Mannheimer Dreck?“
„Und anschließend bummeln wir noch ein wenig durch das neue Stadtquartier Q6Q7, mit seinen schicken Geschäften?“
„Um für dich die Sonne scheinen zu lassen, mache ich alles.“
Trotz der Bemühungen und Zugeständnissen von Pauls Seite, wollte Claire die Reise dennoch absagen. Immerhin ließen die Aussicht auf Besuche im Museum of Modern Art in New York und der Nationalgalerie in Philadelphia Claires Bedenken bezüglich der Reise wie Eiszapfen in der Sonne schmelzen.
Mit einem Gefühl der Sättigung drückte Paul dem Steward die leere Essensverpackung in die Hand und bestellte einen Tomatensaft. Der kleine Bildschirm zwei Reihen vor ihm zeigte die Route samt der aktuellen Flughöhe des Fliegers an. Sie befanden sich zehntausend Meter über dem Boden. 2140 Kilometer lagen hinter ihnen, aber es war noch ein langer Weg, bevor sie neue Welten erobern konnten. Liebevoll strich Claire über Pauls knochige Hand, die den einen oder anderen Altersfleck. Er ließ die Rückenlehne nach hinten sinken und lehnten sein erschöpftes Haupt an die Kopfstütze. In seinen Armen und Beinen spürte er die Anstrengungen der letzten Tage, doch in seinem Kopf ging es hoch her. Hatten Sie alles Nötige eingepackt? Ihre Medikamente, die Pässe, alle erforderlichen Reiseunterlagen? Befanden sich die Kreditkarten und die Reiseauslandsversicherung in seinem Handgepäck? Paul schüttelte mit dem Kopf und versuchte dadurch eine wenig Ordnung in seine Gehirngänge zu bringen.
Er schaute hinüber zu Claire, die ihr müdes Haupt auf ein kleines Kissen gebettet hatte, dass zwischen Flugzeugfenster und Rückenlehne klemmte. Zärtlich strich er über ihre Hand. Claire sah mit ihren zweiundsechzig Jahren im Schlaf immer noch zerbrechlich und verführerisch zugleich aus. Die vollen Lippen waren leicht geöffnet, eine dunkle Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht und die schlanken Beine hatte sie fast bis zur Brust hochgezogen. Claire sah aus wie ein Kätzchen, dass es sich vor dem Kamin gemütlich gemacht hat. Dabei hinkte der Vergleich, wenn Paul gedanklich vierundzwanzig Stunden zurückwanderte. Da fegte ein tasmanischer Teufel durch ihr Schlafzimmer und schrie unentwegt „Wie soll ich mit nur einem Koffer zurechtkommen“ oder „Wohin mit meinen Schuhen?“. Hin und wieder warf dieser Teufel Paul böse Blicke zu, weil er längst mit dem Packen fertig war. Er hatte einfach seine Lieblingskleidung in den Koffer geworfen, Badeshorts sowie Sandalen oben draufgelegt und ohne Probleme den Deckel seines Reisegepäcks geschlossen. Falls er wirklich mehr Kleidung benötigen sollte, dann ging er halt einkaufen. In Amerika soll alles unglaublich günstig sein, laut seiner Tochter Vicky, die ihm gestern noch eine Einkaufsliste zugesteckt hatte.
„Zwei Latzhosen von Oshkosh in Größe 104. Alternativ nehmen wir auch normale Jeans. Aber sie müssen einen Rundumgummibund haben. Knöpfe sind unpraktisch. Außerdem noch drei Sweatshirts von GAP, Turnschuhe von Converse in Größe 26, 30 und 39. Die 39er bitte nicht in grellen Farben, die sind nämlich für mich, und noch zwei 501 Jeans von Levis. In den Outlets bekommst du die Sachen oft bis zu 70 Prozent günstiger. Ihr habt doch noch eine weitere Reisetasche dabei, oder?“
„Nein, die kaufen wir im Outlet.“
„Eine weise Entscheidung, Paps.“
Die Liste verstaute Paul im Koffer und kehrt anschließend zurück zu Claire, um ihr seelischen Beistand beim Packen zu leisten. Sie saß inmitten von einem Berg Kleidung und hielt verzweifelt eine Jeans in den Händen, während sie sich im Kleiderberg umsah.
„Eine gute Wahl“, merkte Paul an, „Jeans kann man immer tragen, oder? Vor allem im Land der Jeans. Jeans sind schließlich echte Amerikaner. Jetzt noch ein paar spitze Stiefel und ein Cowboyhut dazu und du hast das perfekte Outfit für eine USA-Reise.“
Augenblicklich traf ein blaues T-Shirt Paul am Kopf.
„Verschweigst du mir irgendetwas? Machen wir vielleicht Urlaub auf einer Ranch? Ich hasse Kühe und reiten durch die texanischen Weiten will ich auch nicht.“
Paul ließ sich neben Claire auf den Boden sinken.
„Ach Claire, jetzt mach´ es dir nicht so schwer. Eine schöne Frau wie du zieht selbst in Gummistiefeln und Latzhose alle Blicke auf sich.“
Bei diesen Worten verwandelten sich Claires hängende Mundwinkel in ein strahlendes, nach oben geöffnetes Hufeisen. Während Claire nach dem Packen eine Liste mit Anweisungen für Vicky schrieb, kraulte Paul ihren zwei Stubentigern ausgiebig den Bauch. Wer wusste, ob Marie oder Vicky Zeit für solche Schmusestunden mitbrachten oder ob lediglich das Füttern und die Reinigung des Katzenklos auf dem Programm stand.
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