„Paul Schreiber, jetzt reiß´ dich zusammen. Du jammerst permanent. Sei froh, dass du noch lebst. Du hättest Tod sein können. Oder geistig behindert oder querschnittsgelähmt. Du hattest verdammtes Glück. Weißt Du überhaupt, dass eine Behinderung auch Vorteile haben kann?“
„Auf dem Behindertenparkplatz darf ich mit Sicherheit nicht stehen!“
Claire verdrehte die Augen gen Himmel.
„Ja, aber die paar Meter kannst du auch laufen.“
„Welchen Vorteil bringt mir dieses blöde Stück Papier, auf dem Behindertenausweis steht? Verrat mir das!“
Claire knetete geduldig Pauls Nacken und erklärte ihm
„Die Jobsuche hat sich als leicht erwiesen, weil Firmen sich damit brüsten Behinderte einzustellen und somit ihr Image aufpolieren. Und du kannst fünf Jahre früher in Rente gehen. Im Schwimmbad oder Museum zahlst du den vergünstigten Eintrittspreis. Und nur, weil dir drei Zentimeter fehlen.“ Sie lächelte und flüsterte ihm ins Ohr, „und ich versichere dir, sie fehlen nicht an der falschen Stelle, Paul Schreiber.“
Paul wusste, dass Claire Recht hatte. Sie hatte für gewöhnlich Recht. So ist das mit schlauen Ehefrauen. Von diesem Tag an drückte Paul fleißig jeden Tag acht Stunden die Schulbank, um sich mit Offenen-Posten-Listen, Kreditoren und dem Verbuchen von Forderungen auseinander zusetzten. Schwer fiel es ihm nicht, denn Buchhaltung war eine logische Angelegenheit. Fehlte an einer Stelle Geld, musste es sich an einer anderen befinden. Verschwunden ist es nur, wenn jemand in die Kasse gegriffen hatte. Gottlob ging es in Pauls Büchern und Konten jederzeit tadellos zu. Bis auf den einen oder anderen Pfennig, der sich am Ende eines Monats nicht mehr finden ließ. Dreißig Jahre war er seinem Unternehmen treu geblieben, hatte Bilanzen erstellt, Gewinn und Verlust berechnet sowie Monats- und Jahresabschlüsse angefertigt. Er war gut in seinen Job. Gewissenhaft und verantwortungsvoll. Mit stattlichen Schritten eilte er die Karriereleiter hinauf, was sich letztendlich finanziell auszahlte, da sie bald Eltern von zwei Kindern waren.
Claire sah auf und legte ihr Buch in den Schoß. Sie hob ihre Arme in Richtung Paul und gab ihrem Ehemann zu verstehen, dass er ihr einen Kuss geben sollte. „Weil du fleißig geradelt bist, bekommst du eine Belohnung.“
„Die habe ich mir auch verdient.“
„Bei dem breiten Grinsen in deinem Gesicht müssen sich Unmengen von Endorphine in deinem Körper freigesetzt haben. Du siehst, Bewegung macht nicht nur an der frischen Luft glücklich.“
„Da muss ich dir widersprechen. Mein Kopfkino und die Schneeflocken vor dem Kellerfenster haben mir eine Extraportion Schwung verliehen.“
„Warst du etwa nicht zum Training im Keller? Aber du weißt doch, dass Dr. Sander …,“
Paul winkte lässig ab: „Vergiss Dr. Sander, ich habe Zukunftspläne geschmiedet.“
Stirnrunzelnd erhob sich Claire aus ihrem Sessel und schaltet den Deckenfluter ein. „Zukunftspläne? Du weißt schon, dass wir keine zwanzig mehr sind, oder?“
„Ja, aber die Radieschen schauen wir uns noch lange nicht von unten an.“
Mit flinken Schritten, die graue Wolljacke um sich geschlungen, eilte Claire an ihm vorbei in die gemütliche Wohnküche. Ein Unikat für ein Reihenmittelhaus der 1980er Jahre. Claire bestand jedoch auf einer Wohnküche, da der geplante Essbereich mit Durchreiche sie an dunkle Kneipen erinnerte. Verwirrt, über die unvermittelte Flucht seiner Frau, folgte Paul ihr in die Küche.
„Magst du auch einen Tee? Wir können die restlichen Weihnachtsplätzchen aufessen und dann erzählst du mir von deinen ‚Zukunftsplänen‘.“
Paul verzog die Lippen zu einem Schmollmund: „Du brauchst das nicht ins Lächerliche zu ziehen. Ich sage ja nicht, dass ich erneut Kinder in die Welt setzten möchte oder mit dem Rucksack quer durch Afrika trampen will.“
„Das mit den Kindern ist schwer umsetzbar.“
Paul lehnte sich lässig mit dem Rücken an den Kühlschrank: „Für dich vielleicht. Ich suche mir eine junge Geliebte und setze einen Stammhalter in die Welt. Einen echten Kerl, der Fußball spielt und mit mir Actionfilme anschaut.“
Claire verschränkt die Arme vor der Brust und klopft mit der rechten Fußspitze zügig auf und ab: „Und was ist mit Marie? Deiner Tochter, die bereits als zweijährige rosa verabscheute, mit dir eine Seifenkiste baute und kein Basketballspiel der Los Angeles Lakers verpasst? Marie ist tougher als jeder Sohn, merk´ dir das mein Lieber.“
Claire stellte scheppernd die Tassen, Milch, Kandiszucker und den duftenden Earl Grey Tee auf den Tisch. Paul holte die Dose mit den Weihnachtsplätzchen vom Schrank und legt eine Auswahl auf den Keksteller. Er goss sich und Claire Tee ein, zündete drei Teelichter an, rührte gemächlich den Kandiszucker in seiner Tasse um und biss in eines seiner Lieblingsplätzchen: Engelsaugen. Claire umfasste mit ihren kalten Händen die Tasse und nippte vorsichtig am heißen Getränk. Dann starrte sie Paul an.
„Was“, blaffte er.
„Jetzt verrate mir deine Pläne.“
Doch Pauls Mund nahm erneut die Form einer Schnute an.
„Nö, ich will nicht mehr.“
„Man möchte meinen, dass du nicht sechzig, sondern sechs Jahre alt wirst, so trotzig, wie du dich verhältst.“
„Das ist einsetzender Altersstarrsinn.“
„Da stimme ich dir ausnahmsweise zu.“
Claire schlürfte wiederholt an ihrem Tee, bevor sie Paul anlächelte, und einen versöhnlichen Tonfall anschlug: „Jetzt sag´ schon.“
Paul sog die Luft ein und verkündetet: „Amerika. Ich will eine Reise nach Amerika unternehmen. Vier, sechs oder acht Wochen am Stück. Je nachdem, wie viel Zeit wir benötigen. Keine Hektik, keinen Stress. An einem Ort verweilen, solange wir möchten. Was hältst du davon?“
„Durch ganz Amerika? Von Feuerland bis Alaska? In nur acht Wochen?“
„Nein“, Paul schüttelte den Kopf, „nur die Vereinigten Staaten. Und für den Anfang beschränke ich mich auf die Highlights der Ostküste. Du weißt schon ... Boston, New York, Philadelphia, Washington, Richmond, Savannah, Orlando, Miami und Key West.”
„Du willst sie alle?“
„Absolut!“
Bei diesen Plänen verschlug es Claire die Sprache. Hin und wieder nippte sie an ihrer heißen Teetasse oder griff nach einem Zimtstern. „Aber ein acht Stunden Flug. In unserem Alter. Eingequetscht wie Sardinen in der Dose. Und das mit meinen Knieproblemen. Von deinem Rücken ganz abgesehen. Findest du, dass die Reise eine gute Idee ist?“, gab sie zu bedenken.
Eine Weile sprach keiner von beiden ein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach. Paul wartete gespannt, ob Claire weitere Einsprüche einlegen würde. Stattdessen überraschte sie Paul mit einer Alternative: „Was hältst du von einer Fahrt mit dem Orient-Express? Von Istanbul über Venedig nach Paris? Das wäre ebenfalls ein Abenteuer. Nur viel komfortabler.“
Paul griff sich ein Vanillekipferl und kaute gemächlich wie ein Kamel darauf herum. Er leerte seine Tasse in einem Zug und erwiderte „Ja, die Idee ist gut. Aber das ist sie noch in fünf oder zehn Jahren, wenn es uns gesundheitlich schlechter geht.“
„Aber das amerikanische Essen ist Gift für deine Gesundheit. Das fettige Fleisch und die Hitze in Florida, die Kälte in Boston und …“
Bevor Claire weitere Einwände aufzählen konnte, erhob sich Paul von seinem Stuhl. Er setzte sich direkt neben Claire auf die Küchenbank und nahm ihre zarten Hände in seine Pranken: „Liebste Claire, ich gehe in zwei Monaten in Rente. Danach brauche ich Abstand von meinem bisherigen Leben. Einen Schnitt. Verstehst du das?“
Claire nickte, wenn auch nur zaghaft, woraufhin Paul seine Idee ausbaute.
„Die Vereinigten Staaten von Amerika waren für viele Menschen vor mir ein Schritt in eine unbekannte Zukunft. Und das ist bei mir genauso. Ich weiß nicht, wie ich die kommenden dreißig Jahre verbringen möchte, aber ich erhoffe mir Inspiration vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Darum bitte ich dich, Claire Schreiber,“ und jetzt kniete Paul sich vor Claire und fragte sie: „Willst du mit mir nach Amerika reisen, um meinen nächsten Lebensabschnitt gebührend zu starten?“
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