In der Nacht vor ihrer Abreise hatte er fantastisch geschlafen. Er schwang sich daher gut gelaunt an seinem ersten offiziellen Tag als Rentner aus dem Bett. Leise schlüpfte er in Bademantel und Pantoffeln, um Claire nicht zu wecken, und begab sich auf sein erstes Abenteuer: Er folgte dem Geruch von frisch gebrühtem Kaffee. Wer konnte das sein? Einbrecher, die Kaffee kochen?
„Morgen Papa“, begrüßte ihn seine jüngere Tochter Marie und drückte ihm einen Kuss auf die Backe, „Wer eine lange Reise antritt, der sollte ordentlich frühstücken.“
Mit einem Lächeln im Gesicht präsentierte sie Paul eine Brötchentüte von seinem Lieblingsbäcker, der sich auf der Seckenheimer Hauptstraße befand. Der köstliche Geruch von buttrigen Croissants, knusprigen Weizenbrötchen und salzigen Laugenbrezeln stieg in seine Nase. Vergnügt goss Paul sich eine große Tasse Kaffee ein und griff zu einer Laugenbrezel. Ein großzügiges Stück Butter landetet auf der Brezel, bevor Paul es genüsslich in den Mund stopfte und kauend seiner Tochter eröffnete: „Du bist mein Lieblingskind, weißt Du? Aber verrate es Vicky nicht.“
Marie schüttelte den Kopf, ließ sich im Schneidersitz auf der Sitzbank nieder und zerrupfte anschließend ein Croissant, welches einen Umweg über den Milchkaffee nahm, bevor es in ihrem Mund landete.
„Wenn Du mir jeden Morgen Brötchen von meinem Lieblingsbäcker servierst, enterbe ich Vicky und hinterlasse dir mein ganzes Reich,“ dabei schwenkte Paul ausladend mit den Armen durch die Küche.
„Den Rest des Hauses will ich auch. Und nicht nur die Küche.“
„Meine ich doch mit ‚mein ganzes Reich‘.“
Marie dachte über den Vorschlag nach und rückte ihre schwarze Brille auf der Nase zurecht.
„Ich verzichte dankend und bleibe weiterhin in meiner kuscheligen Mansardenwohnung in Heidelberg wohnen. Da werde ich sonntags wenigstens nicht in aller Herrgottsfrühe von den Kirchglocken geweckt. Ich brauche schließlich meinen Schönheitsschlaf.“
Paul tätschelte seiner Tochter den Kopf: „Schönheitsschlaf hast du doch gar nicht nötig.“
„Das sagen alle Väter.“
„Nein, schau dir deine Mutter an. Sie ist zweiundsechzig und anziehender als je zuvor.“
Marie zog skeptisch die Augenbrauen hoch.
„Für eine Frau Anfang sechzig vielleicht. Aber ich bin auf der Suche nach einem Ehemann, der die fünfunddreißig noch nicht überschritten hat. Auf Erbschleicherei à la Anna Nicole Smith habe ich keine Lust.“
„Ja, allein schon wegen dem Erbschaftsärger mit Sippschaft des alten Knackers. Kann ich total verstehen.“
Marie knuffte ihren Vater in die Seite.
„Mach´ dich nur über mich lustig. Dann kannst Du sehen, wer dich zum Flughafen fährt.“
Marie verzog sich in die Ecke der Sitzbank und schlürfte ihren Milchkaffee aus einer großen Tasse. Paul wollte sich noch ein wenig mit seiner Tochter kabbeln. Das vermisste er am meisten, seit Marie vor acht Jahren zum Studium das Haus verlassen hatte. Ihre täglichen Dispute. Den verbalen Schlagabtausch. Ein Witz folgte dem anderen. Eine Pointe nahm die Nächste. Marie war seine Tochter. Durch und durch. Obwohl die Jahre an der Universität sie verändert hatten. Ernster war sie geworden. „Einfach nur Erwachsen“, meinte Claire damals, als er seine Bedenken äußerte. Das stimmte natürlich. Aber für Paul würde Marie immer seine mutige Amazone sein, die frechen Jungs eins auf die Nase schlug und anschließend schneller als der Wind davon sauste. Bis zur Pubertät konnte Paul den Eindruck nicht loswerden, dass Marie ein Junge hätte werden sollen. Dann überfiel eine Horde Hormone seine Tochter und die burschikose Marie verwandelte sich in eine selbstbewusste junge Frau, die zu Lippenstift und Handtaschen schlecht Nein sagen konnte. An ihrem mathematischen Verständnis hatte sich trotz Hormonschub nichts geändert. Das Jonglieren mit Zahlen war Maries Welt und würden es auch in Zukunft bleiben. Mittlerweile war seine „Kleine“ siebenundzwanzig Jahre alt und Doktorandin am Lehrstuhl für Mathematik in Mannheim.
Die Lichter im Flugzeug wechselten in den Nachtmodus. Von Claire hörte Paul nur tiefe und gleichmäßige Atemzüge. Bewundernswert, dass sie schlafen konnte. Das mochte daran liegen, dass Claire sich in der letzten Nacht lediglich hin und her gewälzt hatte. Trotz Kaffeeduft im ganzen Haus schlich sie erst gegen zehn Uhr wortlos in die Küche. Paul bekam einen Kuss auf den Kopf, Marie eine kurze Umarmung. Dann streckte sie sich, legte die Arme in den Nacken und fing auf einem Bein stehend an in der Lautstärke eines brüllenden Gorillas zu gähnen. Bei jedem Gähnen entblößte Claire ihre Zähne und gab den Blick frei auf ihre zwei goldenen Kronen. Anschließend räusperte sie sich und verkündete: „Wir können heute nicht in den Urlaub fahren.“
„Das ist ja mal eine ganz neue Info aus deinem Mund, Mama“.
Streng blickte Claire ihre Jüngste an.
„Ich habe so ein Ziehen in meinem rechten Backenzahn.“
„Deine Krone ist locker?“, fragte Marie frech.
Claires dicke V-förmige Falte über dem Nasenbein kam zum Vorschein.
„Mein liebes Kind, du solltest die hellseherischen Fähigkeiten meiner Krone nicht unterschätzen. Ein Unglück bahnt sich an. Da bin ich mir sicher. Vielleicht stürzen wir ab oder unsere Koffer kommen nicht mit oder wir lassen den Herd an oder den Wasserhahn laufen oder …“
„Oder Du setzt dich jetzt an den gedeckten Tisch“, fiel ihr Marie ins Wort, „trinkst einen Schluck Kaffee und freust dich auf eine atemberaubende Stadt. Hast du verstanden Mama?“
„Du behandelst mich wie eine demenzkranke Neunzigjährige, die nicht weiß, ob sie Männlein oder Weiblein ist.“
Wütend ließ Claire sich auf den Stuhl plumpsen. Paul stand währenddessen auf und stellte sich hinter seine Frau. Sanft begann er ihr den Nacken zu massieren.
„Okay, okay, dann fahren wir nicht nach Amerika, sehen nicht das Empire State Building, das Lincoln Monument oder die Freiheitsglocke und schießen obendrein einen Haufen Geld in den Wind. Für dich, mein Schatz tue ich alles.“
Fünf Minuten lang sagte Niemand ein Wort. Nur leises Kaffee schlürfen und Essgeräusche waren in der Küche zu vernehmen.
„Nun ja … das MOMA in New York oder die Nationalgallery in Philadelphia sollen sehr beeindruckend sein. Ein Mekka für Kunstfreunde.“
Freudig sprang Paul auf und drückte Claire einen Kuss auf den Kopf: „Du wirst es nicht bereuen.“
Bisher verlief alles nach Plan. Es war keine Katastrophe in Sicht. Paul nahm sich das Minikissen und versuchte, sein müdes Haupt auf zwanzig mal zwanzig Zentimeter zu betten. Die Rückenlehne hatte er bis zum Anschlag nach hinten gefahren, aber die Freiheit für seine Beine blieb überschaubar. Paul fragte sich, ob die Flugzeugreihen in den letzten Dreißig Jahren geschrumpft waren oder ob er aufgrund seines gehobenen Alters den Platzmangel beklemmend empfand. So musst es sich in einem Sarg anfühlen. Allerdings bestand in der letzten Ruhestätte die Möglichkeit, die eigenen Beine gemütlich auszustrecken. Hier im Flieger war die Aussicht auf mehr Komfort in der Holzklasse hoffnungslos. So hoffnungslos wie die Suche nach einem freien Parkplatz vor dem Terminal 1 am Frankfurter Flughafen. Für Marie und ihren kleinen Fiat 500 stellte die Suche nach einem freien Platz kein Problem dar. Für Pauls lange Beine und die zwei großen Reisekoffer erwies sich der Fiat 500 als erhebliches Problem. Nachdem endlich die Koffer im Auto verstaut, der Herd und die Wasserhähne kontrolliert und Claire auf den Rücksitz verfrachtet worden war, konnte das Abenteuer beginnen. Auf der einstündigen Fahrt zum Flughafen pries Marie die Vorzüge der Vereinigten Staaten an: „Weißt du Mama, ich war erst letztes Jahr auf einer Konferenz in Amerika. Es war toll. Auch wenn die meisten Menschen das von Atlanta nicht behaupten. Aber die Hauptstadt von Georgia ist Amerika durch und durch. Totaler USA Style“, lobte ihre Tochter bei 150 km/h Fahrtgeschwindigkeit ihr Urlaubsland. „In Amerika einen Burger zu essen ist ein Erlebnis. Die sind gigantisch und beim Reinbeißen quillt es an allen anderen Seiten heraus. Das ist vielleicht eine Sauerei.“
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