Das Feld auf der anderen Straßenseite wurde vom Bauern Nolte bewirtschaftet. Jedes Jahr wuchs da etwas Anderes. Rundum lagen überall Felder, wo kein Wald oder Heide wuchs. Bald wussten wir zu unterscheiden, was da gesät oder gepflanzt war. Wir rissen alles raus, um zu sehen, was da unten dranhing. Manchmal waren das kleine Kartoffeln, mal Rüben, mal nur Wurzeln. Wir probierten alles. Aus Neugierde, und weil wir dauernd Hunger hatten. Und wir fanden fast alles essbar. Manches schmeckte gut, manches weniger. Vor allem die Wasserrüben waren herrlich! Besser als die Runkeln. Die abgeschnittenen Blätter steckten wir wieder in das Loch. Anfangs dachte der Bauer, das wären Wühlmäuse. Doch als er sie herauszog, konnte er sich denken, wer das gewesen war…. Abends waren wir oft so vollgefressen, dass die Mutter sich Sorgen machte, weil wir nichts mehr essen wollten.
Die Runkelrüben, die als Viehfutter dienten, wurden erst spät geerntet. Man zog sie heraus, legte sie in Reihen auf die Erde. Dann stach man mit einem Spaten die Blätter ab. Diese wurden in einer dicken Lage eingegraben, mit Stroh bedeckt, dann mit Erde. Sie fermentierten und rochen wie Sauerkraut, wenn man sie wieder öffnete. Mit einem breiten Spatenmesser wurden sie senkrecht in Schichten abgestochen. Die Kühe waren wie verrückt darauf. Die Runkeln selber, es gab sie in allen Farben, wurden in Mieten, in Erdlöchern, aufgeschichtet, erst mit Stroh abgedeckt, dann mit Erde. Oder in einem dunklen Eck in einer Scheune. Sie wurden im Winter in einem Häcksler in Stückchen gehobelt und mit Kleie und Kalk bestreut verfüttert. Auch die Kartoffeln, außer den Frühkartoffeln, wurden spät geerntet. Anfangs pflügte man sie heraus und klaubte sie dann mit den Händen in Drahtkörbe, um sie dann in die Karren, die vom Pferd gezogen wurden, zu entleeren. Meine Aufgabe war, das Pferd führen. Es anzuhalten und wieder in Trab zu setzen, je nach Bedarf. Am Hof dann rüttelte man die Kartoffeln durch Sortiermaschinen, in denen sich Gitterroste befanden. Meist behielt man die kleineren zur Aussaat im nächsten Jahr, die anderen wurden, je nach Preislage gleich verkauft oder im Keller eingelagert. Die ganz kleinen Knollen, und die beschädigten, waren für die Schweine. Später dann hatten sich die Bauern gemeinsam eine Kartoffelerntemaschine gekauft, die aber von einem Traktor gezogen werden musste. Die machte dann alle Arbeitsgänge in einem. Nur blieben oft Kraut oder Wurzeln darin hängen und sie musste umständlich gereinigt werden.
Auch das Setzen, anfangs von Hand in die frische Furche geworfen, in einem Fuß Abstand, wurde mechanisiert. Zwei Reihen gleichzeitig. Wir Kinder saßen auf der Maschine, die hinten auf dem Traktor hing, und legten fehlende Kartoffeln in die ‚Löffel‘ des Setzmechanismus ein. Zwei sich drehende Scheiben am unteren Ende der Maschine, häufelten die Erde über den Knollen zu einem langen Hügel an. Die Traktoren waren Einzylinder mit 13 Pferdestärken. Ich stellte mir die Pferdeherde vor. Das musste reichten!
Die Krönung der Kartoffelernte war dann das Kartoffelfeuer, wo in riesigen Scheiterhaufen das fast trockene Kraut verbrannt wurde. Es qualmte und stank enorm. Das war der Geruch des Herbstes, der vermischt mit dem Nebel das weite, flache Land bedeckte. Wir warfen ein paar Kartoffeln in die Flammen und klaubten sie dann später, wenn das Feuer runtergebrannt war, aus der Glut. Als sie etwas abgekühlt waren, brachen wir sie auf und aß die süße, mehlige Masse aus der kohlschwarzen Kruste bis wir nicht mehr konnten. Abends schlichen wir Kinder nochmals zum Feuer. Wir tanzten oder rannten um das Feuer herum, ein Windstoß wirbelte orangefarbene Funken in die Höhe, die sich mit den Sternen am Himmel zu vereinen schienen.
Später, am Erntedankfest, wurden die Früchte des Feldes um den Altar der Kirche ausgelegt. Aus Ähren geflochtene Kränze und bunte Apfelmosaike bedeckten den Boden, die Bäcker hatten alle Arten von Brot gebacken und auf dem Altar gehäuft. Fast der ganze Chorraum war ausgefüllt. Die Menschen dankten Gott, dass er die Erde hatte hervorbringen lassen und dass die Ernte ohne Schaden hatte eingefahren werden können. Weihrauch erfüllte die Luft, wie noch ein paar Tage zuvor der Rauch der Kartoffelfeuer. Nach dem Hochamt wurde alles feierlich gesegnet.
Am Martinstag, dem 11. November, zogen wir Kinder mit Laternen durch die Straßen. Man gedachte dem Heiligen Martin, der in einer kalten Nacht seinen Mantel durchgeschnitten hatte, um ihn einem frierenden Bettler zu schenken. Die Stadtkinder hatten meist papierene Lampions, in Form von Sonne, Sternen oder Halbmond. Oder wie Ziehharmonikas. Alle mit einer Kerze drinnen. Wir Landkinder trugen an dicken Stöcken mit Löffeln ausgehöhlte Rüben oder Kürbisse mit hineingeschnitzten Gesichtern. Dazu sangen wir „Laterne, Laterne, Sonne Mond und Sterne, die sind so schön, die sind so schön, da kann man mit spazieren gehen!“ Am Zaun unseres Bootshauses hatte ich zu dieser Zeit immer ein paar dieser ‚Rübenköpfe‘ aufgehängt, die ich mit den Stummeln der Weihnachtskerzen des Vorjahres erleuchtete.
Ein anderes großes Ereignis in unserem Kinderleben war der am 6. Dezember stattfindende Nikolausumzug in Sythen, dort, wo der ‚Hausdrachen‘ wohnte. Wir Kinder glaubten, der Nikolaus wohne im Sundern, einem riesigen dunklen Wald mit Jahrhunderte alten Bäumen. Nachmittags schon trafen wir dort ein und besuchten die Verwandten. Selbst das langweilige Kaffeetrinken nahmen wir geduldig in Kauf, denn nachher sollte es eine große Bescherung geben. Dann liefen wir alle zum Rand des Dorfes, von wo aus man den Wald sehen konnte. Wir Kinder sangen so laut wir konnten „Nikolaus ist ein guter Mann, dem man nicht genug danken kann! Lustig, lustig, trallalalala, heut ist Nikolaus Abend da!“ Und dann kam ein Reitertross aus dem Wald hervor, vornean der heilige Nikolaus in prächtigem Mantel, die Mitra auf dem Kopf, darunter der wallende, weiße Bart, in der Hand den oben gekrümmten, goldenen Bischofsstab. Neben ihm ritten ein paar geschwärzte Gesellen, die Ruprechte, in den Händen Reisigruten, mit der sie durch die Luft hauten, dass es nur so zischte! Die kleinen Kinder wichen erschreckt zurück, während die großen es wagten, diesen eine ‚lange Nase‘ zu ziehen oder zu verspotten. Diese rannten ihnen hinterher, und wehe, sie erwischten einen… In deren Gefolge dann andere Reiter und eine Blaskapelle.
Wir blinzelten hauptsächlich auf die großen Säcke, aus denen die Geschenke herausragten. Und auf die zischenden Ruten. Denn nun las der Nikolaus mit tiefer Stimme langsam aus seinen dicken Buch vor, worin seine Engel alle Schandtaten der bösen Kinder aufgeschrieben hatten und nannte die Namen der bösen Buben. Diese mussten vortreten und bekamen von einem der Ruprechte ein paar Rutenschläge. Dann mussten sie geloben, von nun an brav zu sein, oder besser zu lernen. Es wurden weitere Lieder gesungen, während jedes Kind eine Tüte mit Geschenken bekam, Süßigkeiten, Mandarinen und Gebackenes, vor allem aber der ‚Stutenkerl‘. Dies war ein aus süßem Teig gebackenes Männchen mit Augen aus Rosinen. Im Mund und unterm Arm hielt er eine weiße, tönerne Pfeife. Diese benützten wir später, als wir etwas grösser waren, um unsere ersten Rauchversuche zu machen. Mit trockenem Eichenlaub. Doch das war später, nach dem ‚Sündenfall‘. Vorerst lebten wir Kleinen noch im Stande der Unschuld, glaubten noch an den Nikolaus, das Christkind und den Osterhasen. Der Keim der Sünde war uns noch nicht eingeimpft worden.
Mein Bruder war sechs Jahre alt. Er musste also in die Schule. Und er wollte in die Schule. Endlich einer von den Großen sein! Einer seiner Gründe war sicherlich auch die ‚Zuckertüte‘, eine bunte, nach unten spitz zulaufende Tüte voller Leckereien, die jeder Schulanfänger bekam. „Wenn der eine kriegt will ich auch eine!“ war meine Reaktion. Und so kam es, dass wir zwei uns mit der Mutter beim Photographen wiederfanden, um diesen Moment zu verewigen. Und jeder hielt in den Armen seine Zuckertüte, er natürlich die größte. Stolz ging er von diesem Tag an in die Schule und nahm dafür sogar das früh aufstehen in Kauf, denn er war ja jetzt groß. Bald merkte ich, dass seine Begeisterung an der Schule abnahm. Und wir erfuhren auch warum. Hatte einer mal nicht die Hausaufgaben gemacht, oder passte nicht auf, dann musste er der Lehrerein den Deckel seines Griffelkastens geben und die Hände ausstrecken. Dann schlug die Lehrerin ihm mit dem Deckel darauf. „Du hast nur besser mitzuarbeiten!“ war der Trost der Eltern. Klar, dass solche Geschichten nicht gerade meinen Enthusiasmus anfeuerten!
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