Machte ich etwas zu viel Unsinn, drohte man mir, mich in den Kindergarten, das Josefsheim, zu stecken. Der lag gleich neben der Schule, worin mein Bruder war, und manchmal hatte ich, wenn wir ihn abholten, einen Blick durch das Tor da reinwerfen können. Dort kümmerten sich Ordensschwestern um den noch nicht schulpflichtigen Nachwuchs. Ich suchte an ihrer Brust nach Orden, wie sie Soldaten tragen. Sah aber nur das Kreuz, das sie um den Hals trugen. Vielleicht war für sie das der Orden? Ich hatte ja auch eine Tante, die in einem Orden war. Doch die war lieb und flüsterte eher, wenn sie sprach. Dagegen schrien die hier die Kinder an, trugen sie an einem Ohr oder Haarbüschel über den Hof, wenn sie nicht brav genug waren. Nein, dann doch lieber ein paar Tage versuchsweise brav sein und zu Hause bleiben!
Irgendwie war die Zeit vergangen, obwohl ich es gar nicht gemerkt hatte. Eines Tages sagte mein Vater: „bald beginnt für dich der Ernst des Lebens!“ Ich hatte einen Freund, der hieß Ernst. Ich konnte mir nicht vorstellen, was der mit meinem Leben zu beginnen hatte. Aber die Erwachsenen sprachen sehr oft in Rätseln. Mein Bruder bekam das Fahrrad meines Vaters. Weil seine Beine zu kurz waren, schraubte man einen Spezialsattel direkt auf den Rahmen. Ich bewunderte andere Kinder, die seitlich durch den Rahmen mit ihren Beinen das Fahrrad ihrer Eltern fuhren. Ich bekam das Fahrrad meines Bruders. Darauf sollte ich jetzt fahren lernen. Meine Mutter lehnte das Rad an den blau-weiß gestrichenen Zaun und hob mich auf den Sattel. Ich griff den Lenker und probierte erst mal die Klingel. Dann hielt sie das Fahrrad hinten am Sattel und schob an. Ich wackelte ganz schön mit dem Lenker und meine Füße wollten nicht auf den Pedalen bleiben. Es war einfach an zu viele Dinge gleichzeitig zu denken. Doch nach und nach ging es besser.
Mein Bruder saß auf dem Zaun und schaute spottend zu. Das gab mir genug Verbissenheit, so lange weiterzumachen, bis ich fast automatisch durch Lenker bewegen das Gleichgewicht hielt. Auch die Füße blieben bald auf den Pedalen und suchten nicht mehr den festen Boden, wenn ich mich schräg legte. Ich merkte, je schneller ich fuhr, desto besser blieb ich aufrecht. Meine Mutter konnte mir kaum noch folgen und rannte neben mir her. Plötzlich hörte ich sie nicht mehr, sah sie auch nicht mehr. Ich drehte mich um und fand mich zur größten Freude meines Bruders auf der Erde wieder, das Fahrrad lag schmerzhaft auf mir. Ich rappelte mich auf. Die Knie waren aufgeschürft und klebten voll roter Asche. Meine Mutter war schon da und hob das Fahrrad hoch. Ich verbiss die Tränen. Meine Mutter schimpfte meinen Bruder. Der machte mir eine ‚lange Nase‘ und rief: „Wer den Schaden hat, braucht für den Sport nicht zu sorgen!“ „Spott heisst das!“ korrigierte die Mutter. Für mich war das ein unbekanntes Wort, dessen Bedeutung ich anfing zu erahnen. Um diese Zeit herum hatte der Vater auch ein Motorrad gekauft. Besser gesagt, eine Mischung von Motorrad und Roller, aber mit großen Rädern. Vorne der Beinschutz, hinter dem ich stehend mitfahren konnte, dann der Sattel für den Fahrer, und hinten ein Sattel für den Mitfahrer, meist mein Bruder. Manchmal stürzte die Mutter damit in der Kurve beim Sebbel, weil dort oft Kies auf dem Teer lag. Dann tat sie uns leid, mit ihren kaputten Knien. Und Vater schimpfte auf den Sebbel, der sich zu gut vorkam, mal seine Straße zu fegen!
Ich konnte Fahrrad fahren und war also fähig in die Schule zu gehen. Mit Mutter fuhr ich auf der ‚Cityfix‘, dem Motorroller, zur ärztlichen Untersuchung in die Stadt. Das machte mir schon etwas Angst, all die weißgekleideten Gestalten in dem großen Schulsaal, und vor allem, dass ich mich da vor allen ausziehen musste, bis auf die Unterhose. Außerdem war es kalt da drinnen, denn es war knapp Winterende. Ich musste barfuß auf eine Waage steigen. Ich merkte, wie sich unter meinen kalten Füßen Sandkörnchen vom Fußboden anklebten. Dann mit dem Rücken an die Wand, an der ein Maßband befestigt war. Jemand legte mir flach ein Lineal auf den Kopf und las laut die Größe ab. „Ihr Junge ist ziemlich mager. Bekommt er nicht genug zu essen?“ stellte der Doktor fest. „Er ist einfach zu schnell gewachsen,“ gab sie zurück. „Halten sie es nicht für besser, ihn ein Jahr zurückzustellen?“ Ich bekam es mit der Angst. Die wollen mich nicht! Und ich wollte doch so gerne endlich in die Schule! „Wie lang ist denn sein Schulweg?“ „Zwei Kilometer. Aber ich bringe ihn jeden Morgen mit dem Motorrad hin und hole ihn auch wieder ab!“ versuchte sie mich zu retten. Dann steckte er mir einen Stiel von einem 20-Pfennig-Eis, von dem er ein ganzes Glas voll hatte, in den Mund und ich sollte „A“ sagen. Dabei kotzte ich beinahe. Er sagte irgendwelche Zahlen zu seiner Gehilfin, die alles in ein Formular eintrug. Dann zog er mir die Unterhose vom Bauch und schaute da rein. Ich sollte husten. Er drückte überall an mir rum. Dann zog er mir die Augenlider hoch und schaute mir mit einem Rohr in die Ohren. Langsam reichte es mir. Aber vielleicht würden sie mich doch noch nehmen! Meine Mutter drängte ihn, mich aufzunehmen. Vielleicht wollte sie endlich von ihrem letzten ‚Quälgeist‘ befreit werden. Aber ich glaube, das war deshalb, weil ein Jahr zurückgestellt zu werden ungefähr gleich war, wie eine Klasse zu wiederholen. Und das entsprach einer Schande für die Familie. Zur Erleichterung aller wurde ich zugelassen. Meine Mutter versprach, mich etwas aufzupäppeln. Und begann gleich mit einer Entwurmungskur.
Jeden Morgen nun schaute ich neugierig in das Klo auf meinen Kackhaufen, um zu sehen, ob sich da was rührte. Denn ich hatte gesehen, wenn ich in die Ritzen der Betondeckel, die die Jauchengrube vorm Haus abschlossen, mit einem Stöckchen reinkratzte, dass es da nur so von Würmern wimmelte. Und irgendwo müssen die ja herkommen! Bald war die Grube voll und es kam ein Bauer aus der Nachbarschaft, um diese mit einem schräg an einem Stiel befestigten Eimer auszuschöpfen und in ein Jauchefass zu leeren. Das war eine stinkige Sache. Ich hielt mich ganz in der Nähe, denn einen solch üblen Geruch hatte ich noch nie gekostet! Und was da alles herumschwamm! Ganze Würste schwebten unter der Oberfläche, wie tote Fische mit dem Bauch nach oben. Dazu die Zeitungspapierfetzen, die wir Kinder mit der Schere zurechtgeschnitten hatten und auf eine Schnur gefädelt, für die Gästeklos. Echtes Klopapier war nur für Reiche erschwinglich.
Ich stellte mir vor, ich rutsche aus und falle da rein. Ob einer es wagen würde, da reinzulangen um mich herauszuziehen? Der Bauer ließ diese Suppe dann aus dem vom Pferd gezogenen Jauchefass auf das Feld hinter der Straße laufen. Als Dünger, wie er sagte, um die Pflanzen zu nähren. So konnten wir alle den Duft noch länger genießen. Oft ging ich schauen, was aus diesem Klumpatsch einmal werden wird. Am längsten überlebte das Zeitungspapier. Das wehte der Wind dann irgendwann weg, während der Rest auf wunderbare Weise im Boden verschwand. Wohl mit Hilfe der Regenwürmer, die sich daran zu schaffen machten, dieselben, die wir an die Angel hängten. Irgendwie fand ich das toll, einer ernährt den anderen: Wir die Würmer, die Würmer die Fische, diese wiederum uns und wir wieder die Würmer. Der Bauer nannte das einen Kreislauf. Und ich hatte gedacht, ein Kreislauf ist, wenn der Hund seinen Schwanz fangen will! Ich hörte, dass Frau Mühlbäumer an Kreislaufstörungen litt. Ich dachte mir, dass sie sich nicht mehr richtig im Kreis drehen könnte. Das passierte mir auch, wenn ich mich zu lange im Kreis drehte. Da wurde mir so schwindelig, dass ich manchmal umfiel.
Die Gastwirtschaft nebenan hatte natürlich mehr Gäste als wir. Und außerdem kamen die ja zum Essen hin. Dazu mussten diese sich erst mal entleeren. Die für diesen Zweck vorhandenen Jauchengruben waren dort bestimmt auch grösser. Um sie zu entleeren, hatte man einen langen Graben gezogen, versteckt hinter der Hecke, die entlang der Straße verlief. Versteckt für die Augen, nicht für die Nasen. Dort hinein schöpften die dann ihre Jauche, die durch den Graben in den Mühlbach floss und von da in den See. Sie übergingen die Würmer und nährten direkt die Fische. Mir grauste, wenn ich daran dachte, dass wir so genährte Fische aßen. Aber vielleicht schmeckte das denen gar nicht, tröstete ich mich, und sie tranken nur das Wasser! Und die Scheiße (eines der Wörter, die wir nicht in den Mund nehmen durften) des Gasthauses stank viel schlimmer als unsere! Es stand ein Schild am Ufer des Mühlbaches: ‚Trinkwasserschutzgebiet. Verunreinigen verboten!‘ Aber das konnte ich noch nicht lesen. Vielleicht hatte das der Gaststättenbesitzer einfach nicht gesehen; und außerdem fütterte er doch die Fische… Schwamm mal nach einem Hochwasser ein totes Tier im See, telefonierte mein Vater sofort die Wasserschutzpolizei. Die kam dann mit ihrer Barkasse und versuchte, mit Enterhaken den Kadaver an Bord zu ziehen. Dabei zerfiel der manchmal in Stücke. Ich traute mich gar nicht mehr, das Wasser aus dem Kran zu trinken, was ja auch aus dem See kam. Mit Umweg über das ‚Wasserwerk‘. Nun gut, die Fische kackten da auch rein. Und wir, wenn wir badeten, ließen es automatisch auch immer laufen…
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