Die Eltern ziehen uns ungeduldig weiter. Wir laufen am Kohlenwagen vorbei, in dem so viel Kohle liegt, dass wir bestimmt 100 Jahre damit heizen könnten! Dann hebt man uns die Stufen hinauf, dann die Koffer, als letztes steigt der Vater zu. Drängeln durch den engen Gang, bis wir endlich unser Abteil gefunden haben. Hier drinnen ist es mollig warm. Einen Moment bleibt das Licht weg. Aber es kommt wieder und wir machen es uns bequem. Wir finden bald heraus, dass man die Sitzpolster verschieben kann, um eine Liegefläche daraus zu machen. Bald geht ein Rucken durch den Zug. Er setzt sich in Bewegung, wir ruckeln über Weichen, sehen grüne und rote Signallampen vorbeigleiten. Als die Lichter des Bahnhofs hinter uns verschwinden, bemerken wir den ersten Schein der Morgendämmerung.
Wir haben gute 12 Stunden Bahnfahrt vor uns, erklären uns die Eltern. Über Halle und Leipzig nach Dresden. Uns Kindern unbekannte Namen. Bei Helmstedt ist der Grenzübergang. Dort zeigt der Vater auf riesige Fabrikhallen, wo die Volkswagen gebaut werden. Dann hält der Zug an. Unser Vater schärft uns mehrmals ein, nichts zu sagen, uns nicht zu rühren, nicht zu streiten. Und eine Menge andere Nichts. Trotz seiner hohen Meinung vom ‚anderen‘ Deutschland scheint er deren Vertreter zu fürchten. Und schon sind sie da. Fehlt nur noch, dass wir uns ganz ausziehen müssen. Alle werden abgetastet, selbst wir Kinder. Ewig langes Abwickeln der Formalitäten. Ihre größte Sorge ist es, dass Mutter nicht mehr mit uns ausreisen darf, da sie in der Nähe von Dresden geboren war. Dann verschwinden die ‚Vopos‘, wie die Eltern sie nennen, wieder. „Endlich sind die ‚Popos‘ weg,“ sagt mein Bruder. „Pssst! Wirst du wohl still sein! Wenn die das hören, werden wir alle eingesperrt!“ Weiter geht es. Nur in den großen Bahnhöfen hält der Zug an. Wir dürfen aber nicht aussteigen. Auf den Bahnsteigen patrouillieren dickbemäntelte, schwer bewaffnete Soldaten mit Pelzkappen auf dem Kopf. In Leipzig besteht der Bahnhof aus einer riesigen, mit Glas gedeckten Halle. Unter ihr sammelt sich der Rauch der vielen anwesenden Lokomotiven und zieht langsam durch die Öffnungen ab. Ich finde, dass eher Leipzig den Namen Halle verdient hat, und nicht die Stadt Halle, wo der Bahnhof nur Dächer über den Bahnsteigen hatte. Wir waren in „Sachsen, wo die schönen Mädchen auf den Bäumen wachsen!“ rief meine Mutter freudig aus. ‚Was - haben die hier nicht einmal einen Klapperstorch? Denen fehlt aber auch alles!‘ dachte ich mir, sagte aber nichts. Ich wollte ja auch mal wieder nach Hause kommen!
In Dresden ist dann Umsteigen und weiter bis Radeberg. Dort wartete auf dem Bahnsteig schon eine Menge Verwandter auf uns. Dann folgt ein herzliches Umarmen und Abküssen lassen von lauter fremden Leuten. Wir wurden allen vorgestellt. Zwei Jungen! Damit konnte das ‚Ruthsche‘, wie hier alle meine Mutter nannten, sich schon sehen lassen! Wir wohnten bei den Großeltern in deren ‚Mietskaserne‘. Das wundert mich, dass man eine Kaserne auch mieten kann! Ich dachte, das seien nur Wohnungen für Soldaten. Sie wohnen am ‚Hügelweg‘, auf der ‚Kohlrabi-Insel‘. Ich fand, das war eine schöne Adresse. Selbst wenn ich den Hügel nie gefunden habe. Dafür aber einen kleinen Teich mit einer glatten Eisfläche darauf. Wir lernten unsere zwei Cousinen kennen, und den Cousin, der so hieß wie ich. Und die Onkel und Tanten und deren Nachbarn. Der Onkel Heinz war der Halbbruder meiner Mutter. Wieder dieses Wort! „Aber der ist doch ganz!“ sagte ich. Meine Mutter schaute mich verständnislos an. Dann kapierte sie. „Mein Stiefbruder, kann man auch sagen. Meine Mama und mein Papa waren schon mal verheiratet gewesen. Aber im ersten Krieg fiel der ihr Mann, und meines Papas Frau. Da jeder Kinder hatte, heirateten sie, dass die alle wieder einen Papa und Mama hatten. Weil, einer muss sich ja um die Kinder kümmern, damit der andere arbeiten gehen kann! Opa und Oma sind aber meine beiden Eltern!“ Da musste ich erst mal in Ruhe drüber nachdenken… Eigentlich wollte ich sie noch fragen, warum die Gefallenen nicht wieder aufgestanden waren. Opa hatte Magenkrebs. Man hatte ihm schon einen Großteil des Magens herausoperiert. „Wäre das nicht einfacher gewesen, den Krebs herauszunehmen, wie die Geißlein aus dem bösen Wolf, und den Magen wieder zuzunähen?“ fragte ich meine erstaunte Mutter. „Ach Junge, das verstehst du noch nicht!“
Mein Vater war in Hundekacke getreten. „So ein scheiß Köter!“ hatte gerufen und sich die Schuhsohle am Bordstein abgekratzt. Das waren gleich zwei neue Wörter für mich! Ich hüpfte herum und rief „scheiß Köter! Scheiß Köter!“ Stolz darauf, etwas Neues zu wissen. Das hätte ich lieber nicht machen sollen! Denn deshalb wurde ich ganz schön angeschnauzt. „Sowas sagen Kinder nicht! Also wandelte ich es ab in erlaubte Kindersprache. Daraus wurde dann ‚Aa-Hund‘. Das brachte die Großen dermaßen zum Lachen, und sie benannten mich manchmal mit diesem Namen. Am liebsten hätte ich ihnen gesagt: „Sowas sagen Erwachsene nicht!“
Wir fuhren Schlitten, besuchten ein Museum. Die Zeit verging zu schnell. Bis auf die mir verhassten Kaffeestunden, die sich ewig hinzogen. Wir klapperten die ganze nahe und weitere Verwandtschaft ab. In deren Wohnungen roch es anders als bei uns, obwohl sie alle gleich schlicht eingerichtet waren wie zu Hause. War das das Linoleum, die Farbanstriche, das Bratfett? „Das riecht nach Osten!“ meinte der Vater. Ich hatte bisher noch nicht gewusst, dass Himmelsrichtungen einen speziellen Geruch hatten! Auch die Gegend roch anders. Das kam wohl daher, dass man hier mit Braunkohle heizte, nicht Steinkohle, wie bei uns. Wir kamen bis Görlitz, wo die Tante Mieke wohnte. Zur Untermiete. Aber sie wohnte doch im dritten Stock! In einer Kellerwohnung wäre das klar gewesen. Wieder so ein Wort, was ich nicht kannte, aber bald schmerzhaft dessen Bedeutung kennenlernen sollte!
Nach einem nicht enden wollenden Kaffeenachmittag mit Kaffee, den wir mitgebracht hatten (daheim wurde nur sonntags Bohnenkaffee getrunken) (und auch nur von den Eltern) (wir Kinder wurden mit ‚Kaffeesurrogat- Extrakt‘ aufgezogen), und bröseligem Weihnachtsstollen, wurden wir Kinder bald ins Bett gesteckt. Wir schliefen zu viert in der Tante ihrem Ehebett. Zum Glück war der ihr Mann nicht da, er war noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrt, sonst wäre es noch enger geworden! Die Tante passte nicht mehr da rein und schlief deshalb auf einem kleinen Sofa. Die Tante hatte nur dieses eine Zimmer gemietet, von Leuten die auch zur Miete wohnten, aber in der restlichen Wohnung. Dort befand sich auch das Klo. Nach dem Krieg und seinen Zerstörungen, waren in beiden Teilen Deutschlands die Wohnungen knapp. Vor dem Schlafenlegen waren wir alle zusammen noch schnell zum Pippi machen zu den Leuten gegangen, um sie möglichst wenig zu stören. Für später war unter dem Bett ein Goldfischglas mit Henkel. Ein Nachttopf. So etwas kannte ich noch nicht. Doch vor allen anderen da ‚reinbullern‘, wie hier der Fachausdruck hieß, war für mich schamhaft erzogenen Jungen nicht einfach. Ich wartete also ab. Andere waren aber weniger schamhaft gewesen. Und als ich es nicht mehr aushielt und es vorzog meine Schamhaftigkeit zu opfern, bevor ich die Familie mit dem Ruf eines Bettnässers lächerlich machte, weckte ich meine Mutter. „Kannst du nicht bis zum Morgen warten?“ Wir können doch jetzt nicht alle wecken!“ „Aber ich muss dringend!“ „Klein oder groß?“ „Klein!“ antwortete ich, obwohl ‚groß‘ bei meinem Überdruck eher zutreffend gewesen wäre. Meine Mutter zog das Goldfischglas ganz vorsichtig unter dem einer leicht geöffneten, großen Sardinendose gleichendem Bett hervor.
Da alle viel getrunken hatten und schon ihrem inneren Drang gefolgt waren, war das Glas fast voll. Ein kleiner Goldfisch hätte vielleicht noch reingepasst, aber ohne Bewegung. Doch den brauchte man gar nicht, denn das Glas schimmerte durch seinen Inhalt golden genug. Jetzt nur nichts verschütten! Das hätte mir zwar geholfen, aber um diese Zeit den Schläfern der unteren Etage eine Dusche zu verpassen… Ich kniete mich davor, vergewisserte mich, dass die Mutter nicht herschaute, und ließ ganz vorsichtig laufen. Ich kam mir vor wie in einem nicht endenden Alptraum, wenn man pinkelt und pinkelt und der Druck nimmt kein Ende. Meine Mutter äugte zu mir rüber, aber das war mir jetzt egal! „Halt! Halt an, sonst läuft es über!“ Unter größter Mühe hielt ich an. „So, das reicht! Du bist ja ein großer Junge! Den Rest kannst du morgen früh machen, wenn die Leute aufgestanden sind!“ Ganz vorsichtig, damit ja nichts daneben schwabbelte, schob sie das Gefäß wieder unter das Bett, damit auch niemand hineintreten könnte. Ich kroch wieder ins Bett und hielt mir mit der Hand das ‚Pippilein‘ zu. Ich konnte nicht schlafen und wartete zuerst auf die Morgendämmerung, dann, dass sich nebenan etwas rührte. Es war die schrecklichste Nacht meines kurzen Lebens, die schrecklichste Nacht meines ganzen Lebens überhaupt. Daran änderte auch nicht, dass wir am nächsten Tag den Viadukt, eine Art Brücke, anschauten, der die Neiße überquerte und in der Mitte mit Stacheldrahtrollen abgesperrt war. Dort drüben wohnten die ‚Pollacken‘, denen es noch schlechter ging als den Menschen hier. Soldaten patrouillierten auf der Brücke. Einer von denen pinkelte gerade über das Geländer in den Fluss. In dieser Hinsicht waren die dennoch besser dran als ich…
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