Ich hatte einen Bruder, der war etwas älter als ich und auch etwas grösser. Daran würde ich nie im Leben etwas ändern können. Ich blieb der Kleine. Damit fand ich mich früh genug ab. Auch, dass er der Stärkere war. An Weihnachten merkte ich, dass es Geschenke für Jungen gab und welche für Mädchen. Wir hatten zusammen mit den Eltern einen Wunschzettel aufgestellt. Ich wünschte mir eine Negerpuppe, mein Bruder ein Auto. Das Christkind legte beides unter den Weihnachtsbaum. Mein Bruder machte sich über mich lustig. „Der spielt mit Puppen!“ Jeder von uns zweien hatte einen Teddybären. Das war wohl ein Spielzeug für alle… Ein anderes Mal lag da ein Märklin-Baukasten, mit einer Menge Schrauben und bunten Blechen. Der war bestimmt für meinen Bruder. Der kleine Küchenherd daneben war für mich! Dieser wurde mit kleinen weißen Würfeln beheizt, die einen für uns Kinder anziehenden Geruch verbreiteten. Darauf kochte ich dann in winzigen Töpfen Suppe und Puddings. Wenn diese nicht anbrannten, waren sie einfach lecker, und ich kochte auch für alle Anderen. Dafür wurde ich gelobt. Das war was Besseres, als die Metallteile des Baukastens, die mein Bruder zwar auch in den Mund steckte, aber dafür Tadel bekam! Ich beobachtete die Eltern genau. Sie aßen meine Puddings wirklich! Machten es nicht wie bei meinen Sandkuchen, wo sie dran nibbelten „mhhh, ist das gut!“ sagten, und dann heimlich wegwarfen.
Weihnachten darauf bekam ich eine Puppenstube, mein Bruder eine Dampfmaschine. Sie wurde mit dem gleichen Brennstoff beheizt wie mein Küchenherd. Diese durfte ich nur anschauen, wenn mein Bruder dabei war. Sie spuckte Dampf und Hitze und das Schwungrad setzte sich irgendwann in wahnsinnige Bewegung, ähnlich den Lokomotiven, denen wir von weitem respektvoll zuschauten. Klar, dass ich sie später auch mal anfassen durfte und mir dabei die Finger verbrannte! Am meisten gefiel mir die kleine Pfeife auf dem Kessel. Wenn ich sie öffnete, kamen erst ein paar Wassertropfen raus, dann ein schrilles Pfeifen. Schnell machte mein Bruder sie wieder zu, denn schon begann das Schwungrad sich langsamer zu drehen. Aber auch meine Puppenstube hatte einen Wasserhahn, eine Badewanne und ein Klo. Das Wasser wurde in einen kleinen Behälter hinten dran gefüllt. Gar zu gerne hätte ich eine Dampfheizung eingebaut!
Weihnachten darauf bekam der Bruder Zubehör für die Dampfmaschine. Ich einen Puppenwagen. Langsam wurde ich dem Christkind böse. Ich war doch ein Junge! Und Jungenspielzeug fand ich inzwischen viel interessanter! Meine Mutter meinte, das Christkind hätte an Weihnachten so viel zu tun, da hätte es wohl etwas verwechselt. Es musste ja überall gleichzeitig sein! Sie hatte recht. Ich bemitleidete das arme Christkind. Anfangs kam es in der Nacht. Am Weihnachtsmorgen lagen dann die Geschenke unterm Weihnachtsbaum. Zum Glück hatten die Eltern vergessen gehabt, die Tür zuzusperren! Denn wir hatten gehört, dass es woanders durch den Kamin gekommen war. Wie muss das nachher ausgesehen haben! Und bei uns war nur das dünne Ofenrohr, und der Küchenherd daran. Eine Zumutung!
Später gingen wir zwei mit dem Vater am Nachmittag des Heiligen Abends spazieren. Wir statteten dem Schrankenwärter in seinem Blechhäuschen einen Besuch ab. Gleich dahinter hatte er ein kleines Steinhäuschen, mit viel Blumen rundum, wo er und seine Frau und ihre zwei Ziegen wohnten. Manchmal klingelte das Telefon. Dann drehte er mit einer Kurbel die rot/weiß gestrichenen Schranken herunter. Eine Glocke machte „Pling, Pling, Pling!“ Langsam spreizten sich die beweglich hängenden Stäbe ab und bildeten eine Art Gittervorhang, der vom Schrankenrohr fast bis auf den Boden reichte. Wohl um zu verhindern, dass Kinder und Tiere da drunter durchschlüpften. Kurz darauf brauste die Rauch und Dampf speiende Lokomotive in einer Lärm- und Hitzewelle an uns vorüber und warf uns regelrecht zurück. Im Vorbeifahren zog der Lokführer kurz die Dampfpfeife, was uns einen weiteren Schreck einjagte. Dann folgten die Wagen in einem ohrenbetäubenden, an- und abschwellenden Lärm. Und plötzlich war der Spuk vorbei und alles verschwand rauschend in der Ferne. Wir halfen dem Bahnwärter beim Hochkurbeln der Schranken. Nur der Rauchgeruch schwebte noch in der Luft. So nahe waren wir einem Zug noch nie gewesen! „Nie ohne zu schauen über die Gleise gehen!“ mahnte er uns, „es könnte ja ein Zug von der anderen Seite kommen!“
Was hatten die Erwachsenen nur alles zu besprechen! Das nahm kein Ende! Wir zogen den Vater an den Händen; „Komm, sonst versäumen wir noch das Christkind!“ drängten wir. „Das eilt nicht! Das kommt noch lange nicht!“ Und er trank noch ein Schnäpsken mit dem Bahnwärter, der ab und zu zum schrillenden Telefon ging oder die Schranken betätigte. So konnten mein Bruder und ich noch mehrere Züge von nah bestaunen. Auch eine orangefarbene Diesellok, eine V 200. „Ich werde mal Lokführer!“ erklärte mein Bruder stolz dem Vater! „Komm du erst mal in die Schule!“ war dessen Antwort. Und immer noch hatten die sich was zu erzählen! Bis wir dann endlich nach Hause kamen, war es natürlich zu spät.
Das Christkind war schon da gewesen, und wir hatten es wieder nicht gesehen! Doch beim Anblick der Geschenke vergaßen wir es schnell. Wir sangen „Stille Nacht, heilige Nacht, Gottes Sohn ‚Owi‘ lacht.“ Und ich dachte, Gottes Sohn heißt Jesus! Und dann noch ‚oh du fröhliche, oh du selige, knabenbringende Weihnachts-zeit!‘, was sich ewig hinzog. (Ich ging noch nicht zur Schule; meine kindliche Seele hatte noch nicht durch den Religionsunterricht ihre Unschuld verloren. Von Gnade hatte ich nie gehört.) Außerdem war ich ja ein Knabe und auch in der Weihnachtszeit geboren! Hätten meine Eltern ein Mädchen haben wollen, hätten sie mich für Ostern oder so bestellen müssen. Was kann ich dafür, dass ich kein Mädchen bin! Ich war gespannt, ob sich das Christkind diesmal wieder vertan hatte. Dann durften wir uns auf unsere Geschenke stürzen. Mein Bruder hatte ein batteriegetriebenes Auto, ich eine Achterbahn zum Aufziehen. Ich glaube, jetzt war es bis zum Himmel durchgedrungen, dass ich ein Junge war!
Da waren wir zwei eine Weile beschäftigt. Doch blieb mir genügend Zeit, um über die knabenbringende Weihnachtszeit nachzudenken. Denn eigentlich hätte da eher mein Bruder ein Mädchen sein müssen, denn er war im August geboren, also weit von der knabenbringenden Weihnachtszeit entfernt! Auch sagten die Leute, wenn sie ihn sahen, „ganz die Mutter, die Augen, diese schwarzen Haare.“ Und bei mir „ganz der Vater, diese blonden Haare, dieser Dickschädel!“ Doch wo kommen die Kinder her? Man sagte uns, der Klapperstorch hatte uns gebracht. Aber ich wäre etwas schlecht verpackt gewesen. Darum hatte ich auch das kleine Loch vorne im Bauch. Transportschaden. Doch das war ja zum Glück zugeheilt, und man brauchte mich nicht umzutauschen. Mein Bruder hatte aber auch so ein Loch. Der Storch schien mir gar nicht so sicher als Transportmittel. Zum Glück hatte er mich nicht fallen gelassen!
Manchmal kam die ‚Pötterstante‘, die Hebamme, wie meine Mutter sie nannte, zu Besuch. Dann tranken sie zusammen ein, meistens zwei Gläschen ‚Datisnixfürdich‘ und tuschelten aufgeregt miteinander. Meine Mutter sagte, diese hatte mich in Empfang genommen, ‚aufgehoben‘, als mich der Storch abgelegt hatte. Das hätte meine Mutter bestimmt auch alleine hingekriegt! dachte ich mir. Denn wenn der Postbote Pakete brachte, so wie letztens das große mit den Lebkuchen, was bestimmt schwerer war als ich damals, ruft sie ja auch nicht die Tante Pötter zu Hilfe! Unbemerkt krabbelte ich unter den Tisch. „Hast du aber noch schöne Beine!“ hörte ich die Tante sagen, „Andere Frauen haben nach ein paar Kindern schon Wasser darin!“ Ich schaute mich um. Ich sah die meiner Mutter und die der Besucherin. Demnach müsste diese viele Kinder haben, denn sie schimmerten leicht bläulich! „Ich hab ja nur zwei!“ hörte ich Mami sagen. „Ich kann nicht verstehen, dass andere so viele haben. Bestimmt haben die nicht aufgepasst!“ Sie sprach in Rätseln. Was sollte das heißen, nicht aufgepasst? Wenn ich hingefallen war, hieß es „pass doch auf!“ Sollte ein Mädchen, das hinfällt, ein Kind geliefert bekommen? Sie fingen an zu tuscheln. Vielleicht aus Rücksicht auf meine empfindlichen Ohren. Ich bekam nicht alles mit. Aber es ging um Monate und anstehende Lieferungen des Klapperstorches. Nach einer Weile stand die Tante Pötter auf. „Wölfi! Komm und sag der Tante auf Wiedersehen!“ Ich rührte mich nicht. Sie begleitete den Besuch hinaus. Schnell schlüpfte ich aus meinem Versteck, krabbelte in mein Eck und wühlte in der Spielzeugkiste. „Ja wo warst du denn?“ „Immer in der Küche!“ „Ich hab‘ dich gar nicht bemerkt. Muss wohl von dem dritten Gläschen kommen…“
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