Er hatte zwei Töchter, die aber viel älter als wir waren. Sie beachteten uns wenig. Sie kitzelten uns, um uns zum Lachen zu bringen. Und eine hatte einen Jungen. Mit ihnen im Haus wohnte die Tante Liesbeth, von der man sagte, sie sei ein Hausdrachen. Was eine Hauskatze war, das wusste ich, aber ein Hausdrachen… ob sie sich verwandeln konnte, wie in einem Märchen, und vielleicht auch Feuer speien? Bei Tisch beobachtete ich sie genau. Sie hatte einen strengen Knoten in ihrem grauen Haar, eine schmale, leicht gebogene Nase. Gekleidet war sie ganz in schwarz. Eine Hexe konnte sie nicht sein, sie hatte keinen Buckel. Oder gab es Hexen ohne Buckel? Oder hatte sie einen künstlichen, aus Schaumgummi, wie meine Mutter so dicke Polster in einer Jacke hatte, die ihr breite Schultern gaben? Und ich hatte einen Reisigbesen im Gang stehen sehen, und eine schwarze Katze schnurrte um meine Beine! Ich hatte meine Mutter mit dem Vater auf dem Herweg flüstern hören, „weißt du noch, beim letzten Besuch, da hat sie Gift und Galle gespuckt!“ Vorsicht war also geboten. Es wurde kaum geredet am Tisch. Uns Kindern, auch dem Uwe, war Sprechen am Tisch verboten. Vor allem, wenn die Erwachsenen sich unterhielten. Es war stinklangweilig für uns. Nur sitzen, die Hände auf dem Tisch, nur antworten, wenn man gefragt war, und dann meist „ja, liebe Tante, nein, liebe Tante!“ Oder „danke schön“ mit einem Diener dazu. Ich wartete darauf, dass sie sich in einen Drachen verwandelte. Aber nichts geschah.
Dann schickte man uns endlich raus zum Spielen. Der Onkel, der leidenschaftlicher Fotograf war, wollte ihnen seine letzten Bilder zeigen. Er hatte eine Leica, hatte ich gehört, konnte mir aber nichts darunter vorstellen, vielleicht war das eine Krankheit. „Macht euch nicht schmutzig! Und keinen Lärm!“ rief uns der Drachen noch hinterher. Endlich erlöst! Wir schlichen uns in Onkel Heiners Schreinerwerkstatt und bewarfen uns mit Hobelspänen. Uwe meinte, dass hier die Tante nie herkäme. Nach einer Weile rief man uns. Wir eilten hinaus. „Ja wie seht ihr denn aus!“ rief die Tante. „Sind eben Jungens!“ nahm uns der Onkel in Schutz. Man staubte uns ab, vor allem die Tante. Deren Gesten glichen mehr Schlägen zur Bestrafung. Der Onkel wollte ein Foto von uns allen machen. Der Fotoapparat stand schon auf einem Dreibein. Wir stellten uns auf. Die Kinder vorne. „Lächeln!“ befahl man uns. „Nicht bewegen!“ herrschte uns der Vater an. Aber bis alles richtig eingestellt war, der Onkel auf einen Knopf gedrückt hatte, der Apparat zu surren anfing, er zu uns rannte und sich neben die Tante stellte, hatten wir uns natürlich bewegt. „Gleich kommt das Vögelken!“ meinte der Onkel. Ich dachte, das ist wie bei einer Kuckucksuhr. Stattdessen gab es einen grellen Blitz, so dass ich erschreckt zurückfuhr. „Ich hatte doch gesagt, nicht bewegen!“ fauchte mein Vater. Alle lachten über mich. Nicht mal meine Mutter nahm mich in Schutz!
Da war noch die Tante Maria, die Schwester meines Vaters. Sie war Klosterschwester und wohnte in Essen. Dieser Name gefiel mir, machte mir richtig Appetit. Sie arbeitete in einem Krankenhaus im Labor. Ich wusste nicht, was das war. Traute mich auch nicht zu fragen, weil dann bestimmt mein Bruder anfing „das Baby weiß noch nicht mal, was Labor ist!“ Dabei wusste der das selber nicht mal! Wir nahmen erst den Zug. Dritter Klasse, auf von Hosen glänzend polierten Holzbänken. Das war immer ein Erlebnis, die Bahn zu nehmen! Alles war riesig, roch nach heißem Öl und Russ. „Tut nichts anfassen!“ mahnte die Mutter, „das ist alles schmutzig!“ Aber in einen Eisenbahnwagen zu gelangen, ohne was anzufassen… Dafür mussten wir uns bei der Tante erst mal gut die Hände waschen und mit einem Stinkzeug einreiben. Es roch komisch bei ihr. Wo sie arbeitete, standen viele Flaschen rum. Sie führte uns durch das Krankenhaus. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es noch so viele Kranke gab. Auf den Fotos meiner Mutter aus dem Krieg, sie war Krankenschwester gewesen, hatte ich auch viele Kranke gesehen. Aber der Krieg war doch schon lange vorbei…
Dann mittags mit der Tante essen. Mit Tischgebet. Das machte selbst unsere Eltern verlegen. „Dein Essen schmeckt aber viel besser, Mami!“ entfuhr es mir. „Sowas sagt man nicht!“ herrschte sie mich an. Ich verstand die Welt nicht mehr! Zuhause hätte sie mich dafür umarmt! Am Nachmittag begleitete uns die Tante in der Straßenbahn bis zum Bahnhof. Die Straßenbahn ruckte nach links und rechts. Das gefiel mir. Ich dachte, gleich muss sie entgleisen! Surrend hielt sie an. Ein paar Leute stiegen aus, dann stiegen andere ein. Was war denn das? War das der Schornsteinfeger? Da kam ein schwarzer Mann durch die Tür. „Ein Negerpimmel!“ hörte ich jemanden sagen. Von ‚Neger‘ hatte ich schon gehört. Einer der Heiligen Drei Könige war ein Neger, der Melchior. Und ‚Pimmel‘? Sollte ich die Tante fragen? „N‘ Schwatter!“ stellte die ihrerseits fest, nicht anfassen, der färbt ab!“ Nur meine Mutter sagte nichts und drückte mich fest an sich. Heimlich betrachtete ich die Hände des Mannes. Und wirklich, innen waren sie heller als außen! Die Tante hatte Recht! Beim Aussteigen passte ich genau auf, wo ich hinfasste. Hundemüde kamen wir nach diesem Großstadtausflug wieder zu Hause an. Man steckte uns gleich ins Bett und ich vergaß sogar nach der Bedeutung der neu gelernten Wörter zu fragen.
Meine Mutter hatte mehr Verwandtschaft als mein Vater. Aber die wohnten alle weit weg, in der Ostzone. „Das heisst nicht Ostzone, das heisst DDR!“ „Sogenannte DDR!“ korrigierte mein Vater. Mehrmals im Jahr schickten meine Eltern Pakete rüber. Ich durfte beim Einpacken helfen. Seife, Zahnpaste, Schokolade, Nähgarn, Rasierklingen, Socken, Nylonstrümpfe. Und natürlich Zigaretten, Bohnenkaffee, Dosenmilch, Zitronen, eigentlich ziemlich alles. Wir wickelten meist die einzelnen Dinge in Zeitungspapier ein, denn ganze Zeitungen zu schicken war verboten. Ich wunderte mich, dass die das nicht selber kaufen konnten. „Denen fehlt im Augenblick noch vieles, aber ihr werdet sehen, bald werden die da drüben uns überholen!“ meinte der Vater, „denn bei denen ist die echte Demokratie, da herrscht das Volk. Bei uns machen die Kapitalisten die Politik!“ Ich schwieg. Das waren zu viele neue Wörter auf Mal. Wir kriegten dafür an Weihnachten immer eine große Flasche ‚Radeberger Bitterlikör‘ geschickt, Verdauungsmedizin für meine Mutter und die Pötterstante, und einen ‚Christstollen‘, der ab Ostern am besten war.
Schon lange hatten die Eltern davon gesprochen, mit uns zu den Verwandten im Osten zu fahren. Doch das war gar nicht so einfach. „Da ist zuerst eine Menge Papierkrieg zu erledigen!“ sagte die Mutter. Ich fragte mich, wie das ginge. Mit Papierflugzeugen? Oder sich mit Papierknäuel bewerfen? - An einem Wintertag fuhren wir los, weil im Winter weniger zu tun war. Der Herr Mühlbäumer schaute inzwischen am Bootshaus nach dem Rechten. Ich fand, er könne doch auch mal nach links schauen… Es war bitterkalt. Vor Morgengrauen schon holte uns ein früherer Schulfreund unseres Vaters mit dem Taxi ab. Das erste Mal, dass ich Auto fuhr! Und dazu noch mit einem Mercedes, mit einem Stern vorne drauf. Wie die Sebbels, die mal in den Himmel kommen sollen. Ob deshalb schon der Stern auf deren Auto ist? Es ging zum Bahnhof.
Über Eis und harschigen Schnee stapfen wir durch die Sperre auf den Bahnsteig. Der Zug steht schon da. Ein beißender Kohlegeruch liegt in der kalten Luft. Nur die riesige Lokomotive strahlt eine Welle von Wärme aus. Dampf strömt aus mehreren Öffnungen, hier klickt es, dort klackt es, wie der Herzschlag eines enormen schwarzen Tieres. Aus einem Überdruckventil zischt laut ein Dampfstrahl in den dunklen Himmel und lässt uns zusammenfahren. Das Fahrerhaus wird vom flackernden Feuerschein des Kessels erhellt, ich erkenne den rußgeschwärzten Lokführer in der Fensteröffnung. Wir Kinder bestaunen die vielen riesigen Speichenräder, alle durch lange Eisenstangen miteinander verbunden. Weiter vorne sind zwei kleinere Räder. Darüber sehen wir ein waagerecht liegendes, fassartiges Teil, aus dem eine runde, silbern glänzende Stange herausragt, welche mit den Rädern verbunden ist. „Das ist der Zylinder mit dem Kolben drinnen!“ erklärt mein Bruder stolz, weil er das von seiner kleinen Dampfmaschine her kennt. Bisher wusste ich nur, dass der Schornsteinfeger einen Zylinder hat. Ein schwarz gekleideter Mechaniker hastet mit einer Ölkanne herum und lässt an bestimmten Stellen Öl aus deren langem Schnabel auf die Lager laufen. Im Dunkel über der Lokomotive schwenkt ein riesiges gebogenes Rohr über eine große Öffnung und ein Wasserschwall ergießt sich in das Innere der Maschine. Funken rieseln auf die Gleise und geben der Lok das Aussehen eines enormen, ruhenden Drachens. Rohrleitungen führen am Kessel entlang und verbinden die verschiedenen Teilen der Maschine.
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