Der Herr Mühlbäumer hatte gut nach rechts und links geschaut, unser Haus war noch da. War das schön, wieder im eigenen Bett zu schlafen, vor allem zu jeder Zeit aufs Klo gehen zu können! Doch manchmal verstopfte es und drohte, überzulaufen. Vielleicht kam das von dem Zeitungspapier. Ich bekam dann immer Panik, stellte mir vor, dass es verstopft bliebe und ich nie mehr ‚Klein‘ oder ‚Groß‘ machen könnte. Dann holte die Mutter oder der Vater das ‚Pumpfix‘, einen Gummisauger auf einem Stil und stampfte damit in den schwimmenden ‚Kötteln‘ und Papierstückchen rum, bis alles einer Ochsenschwanzsuppe glich. Dann, plötzlich verschwand kreiselnd der ganze Spuk in einem großen Strudel, und ich atmete erleichtert auf.
Die Eltern hatten Freunde in der Stadt. Sie hatten ein Farbengeschäft. Ihre Wohnung war neu eingerichtet, die Kinder hatten immer modische Sachen an. Bisweilen bekamen wir, vor allem mein Bruder, andere Anziehsachen. Manchmal erkannte ich darin die alten Kleider von deren Jungen wieder. Zum Glück musste ich nicht die Sachen von deren Tochter, die mein Alter hatte, auftragen! Wenn die Frauen zusammen Kaffee tranken, taten sie immer ganz gekünstelt. Sie stellten beim Tassehalten ihren kleinen Finger ab und erfanden eine neue Sprache. Das Sofa nannten sie ‚Schesselong‘, ‚anrüchige‘ Worte wie Aa, Klo oder Toilette ‚nahm man nicht in den Mund‘, wie man uns oft genug einbläute. „Thea, ich sollte mal!“ oder „Thea, wo ist denn die ‚Tö‘?“ „Zweite Türe links!“ war dann immer die Antwort. Bei uns war das die erste Türe links. Aber wir machten uns einen Spaß daraus, immer ‚zweite Türe links‘ zu sagen. Sie hatten ein Klavier, und der Sohn, der so alt wie mein Bruder war, aber grösser, nahm Unterricht. „Für sowas schmeißen wir unser Geld nicht zum Fenster raus!“ war die Bemerkung unseres Vaters. Aber ich hatte diese Leute auch noch nicht ihr Geld rausschmeißen gesehen. Obwohl ich manchmal eine Münze auf dem Fußweg fand. Die einzigen, die was um sich schmissen, waren die Jecken beim Karnevalsumzug, und die warfen mit Bonbons.
Es fehlte uns Kindern an nichts. Luxus kannten wir nicht, auch keine richtig reichen Menschen. Und auch nicht deren Abscheu gegen arme Menschen. Zwar rief man uns manchmal nach ‚Flüchtlingskinder‘ oder ‚Barackenbewohner‘ und hänselte uns, weil wir kein Haus hätten, sondern in einer Holzhütte wohnten. Doch das störte uns nicht, denn, wenn auch außen aus Holz, war es innen massiv. Wir müssen sehr arm gewesen sein, denn mein Vater bekam ein geringes Gehalt und ergriff jede Gelegenheit, nebenbei etwas dazu zu verdienen. So schliff er den Winter über Segelboote und lackierte sie neu. Er arbeitete für die Bootshausgesellschaft, also den Hotelbesitzer von der Stadtmühle. Und diese fuhren eben in zwei Mercedessen. Wir liefen zu Fuß. Früh schon war mir klar, dass viele Dinge schlecht verteilt sind. Ich merkte es, wenn ich eine Stange Karamellen hatte und Andere hatten keine. Alle schauten mich an, und warteten darauf, dass ich teile. Gab ich nichts, würde mir vielleicht ein Stärkerer sie abnehmen, dann bliebe mir gar nichts. Teilte ich, könnten wir uns alle damit erfreuen, und vielleicht teilte später mal ein Anderer auch mit mir. Und ich machte mir Freunde. Die Sebbels hatten nicht viele Freunde.
So sehr ich die gebrauchten Sachen verabscheute, gab es doch Dinge, die ich in mein Herz schloss. Manche Jacke oder die speckige Lederhose wollte ich um keinen Preis hergeben, selbst, wenn sie mir nicht mehr passten. Ich hätte es vorgezogen, klein zu bleiben! Eines Tages bekam mein Bruder ein Fahrrad, ein neues. Wir ahnten, eine Änderung stand bevor, deren wir uns noch nicht voll bewusst waren. Denn bald sollte er sechs Jahre alt werden. Doch vorerst musste er erst einmal lernen, das Gleichgewicht darauf zu behalten. Wir zwei waren sehr dünn. Aber eigentlich waren alle Menschen dünn, außer dem dicken Kock oder dem Stranköhner. Doch lassen wir die für später! Wir begleiteten Mutter oft beim Einkaufen. Anfangs hatte sie einen Handwagen, an den wir unseren Hund, den Heiko anspannten. Zur Stadt zog der uns, auf dem Rückweg die Einkäufe. Wir konnten kaum erwarten, zum Metzger zu kommen. Denn da bekam jeder von uns erst mal eine schöne Scheibe Wurst. „Damit ihr etwas auf die Rippen kriegt!“ meinte der lachend. „Aber so mager sind die doch nun auch wieder nicht!“ entrüstete sich unsere Mutter. Anstatt ihm zuzustimmen, damit er uns eine weitere Scheibe Wurst gibt! Dann ging es zum Lebensmittelladen. Zuerst jeder von uns ein Bonbon. „Was darf’s denn sein?“ Und er suchte alles zusammen, verpackte es, wog es. Dann zum Bäcker. Gab es Brot von ‚gestern‘, nahm Mutter dieses, „das schneidet sich besser!“ Dabei waren wir gierig auf frisches, warmes Brot, das schmeckte so gut knusprig. Doch war das von gestern halb so teuer, und von dem frischen aßen wir einfach zu viel. Im Nu war da der halbe Laib verschwunden. „Da kriegt ihr nur Bauchweh von!“
Trafen sich mehrere Mütter, wurden ihre Stimmen leiser und ich hörte „glauben sie nicht, ihr Kind hat Würmer? So dünn, wie der ist! Sie sollten mal seinen Stuhl beobachten!“ Am Abend schaute ich meinen Stuhl, auf dem ich sonst saß, ganz genau an. Ich fand ihn genau so wie die anderen. Trotzdem tauschte ich ihn gegen einen anderen aus. Ab morgen würde ich dicker werden! Mal sehen, wer jetzt bei uns abnehmen würde… Wegen der Würmer waren alle Kinder auf ständiger Wurm-Diät. Dauernd fütterte man uns mit rohem Sauerkraut aus dem Fass des Krämers. Zum Glück schmeckte mir das. Anders als der Lebertran, von dessen weiterer Verabreichung unsere Eltern nach dem ersten Löffel absahen. Die nächsten Nachbarn waren weit, aber sie befürchteten, als ‚Rabeneltern‘ angesehen zu werden, die ihre Kinder misshandeln, dermaßen hallte unser Geschrei über das sonst so ruhige, flache Land.
Satt waren wir immer. Man trank halt eine Tasse Muckefuck mehr, das füllte den Magen. Der Bäcker kam einmal in der Woche mit dem Pferdewagen vorbei, später dann mit einem qualmenden Dreirad. Wie duftete das herrlich, wenn er hinten die Klappe aufmachte und uns jedem ein halbes warmes Brötchen in die kalten Hände drückte! Der erste ‚Negerkuss‘ bleibt mir ewig in der Erinnerung, auch wenn ich anfangs nicht wusste, ob ich hineinbeißen soll. Ich dachte an den Neger in der Straßenbahn. Diese zartknackige, hauchdünne Schokoladenkruste, dieser übersüße, auf der Zunge zergehende, leicht klebrige Schaum, dann diese feine Waffel, die man mit etwas Enttäuschung, weil schon alles zuende war, wie eine Hostie auf der Zunge langsam zergehen ließ! Oder die ‚Amerikaner‘. Anfangs glaubte ich, die sähen aus wie die Engländer. Aber das war etwas Gebackenes, sah eher wie eine kleine ‚Fliegende Untertasse‘ aus! Mit leckerem Zuckerguss auf der flachen Seite. Und die ‚Schweinsohren‘: anders als die bleichen Tüten mit dem blutigen Knorpelrand und den angesengten Borsten beim Metzger im Schaufenster! Klebrig süßes Knusperzeug, besser als am Hexenhäusle von ‚Hänsel und Gretel‘! Bienen und Wespen kannten wir zur Genüge. Doch für einen ‚Bienenstich‘ von unserem Bäcker, mit seinen Mandelsplittern oben drauf, so dick, dass er gar nicht in unseren Mund passte, mit seiner herausquellenden, süßen Creme, hätten wir sogar einen echten Bienenstich in Kauf genommen! Bei diesen aufregenden Sachen vergaß ich sogar, das Pferd zu kraulen, das vorne in der Deichsel geduldig wartete, dass wir Kinder uns endlich entschließen, welchen Leckerbissen wir wählen sollen…
Als Brotaufstrich gab es meistens Schweineschmalz mit etwas Salz darüber. Natürlich zugeklappt, als Doppeldecker. Eine einfache Scheibe Brot zu essen, wäre uns nie in den Sinn gekommen. Wenn kein Schmalz da war, oder auch zur Abwechslung, ein Margarinebrot, mit Marmelade drin, aber nicht zu viel, die würde sonst ja rausquetschen! Oder Margarinebrot mit Zucker bestäubt. Das schmeckte gut und knirschte so schön zwischen den Zähnen! War der Küchenherd an, gab es oft ‚Backbütterken‘, Toast, auf der Herdplatte geröstet. Mit etwas Margarine und Salz darauf. Das waren die einzigen, die man nicht zuklappte, die man offen aß. Das erfüllte die Stube mit dem Geschmack von Gebackenen, das schaffte eine gemütliche Atmosphäre. Legte man eine Scheibe auf die Herdplatte, dann brutzelte es erst ganz leise, ein Duft stieg in die Luft, der uns das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ, die Scheibe wölbte sich leicht. Das war das Zeichen, dass sie umgedreht werden wollte. Stieg ein bläulicher Rauch auf, war es zu spät: man hatte nicht aufgepasst, oder der Ofen war zu heiß gewesen, eine Seite war schwarz. Doch das war nicht schlimm. Das war dann wie Zwieback. Mit dem Messer schabte Mutter das Angebrannte über dem offenen Kohlenkasten ab und schmierte Margarine drauf. Diese schmolz schnell und füllte die goldenen Poren, tropfte sogar manchmal unten durch.
Читать дальше