Toni drückte erneut auf den Knopf und wiederum erschallten die wuchtig-tragenden Glockenklänge von Big Ben durch das Innere des Hauses. Hinter der undurchsichtigen Glasfüllung der Türe zeichnete sich jedoch weiterhin weder ein näherkommender Schatten noch irgendeine andere Bewegung ab.
Toni Scapia ging um das Haus herum, gelangte so in den Garten. Er hoffte nicht vergebens, denn die Terrassentüre stand offen. Irgendwo musste auch noch ein Fenster geöffnet sein, denn die weiße Gardine wurde vom Wind immer wieder erfasst und weit nach draußen gedrückt.
»Alberto?«, rief Toni in das Innere des Hauses, hatte den Vorhang zur Seite gedrückt und sah in ein Wohnzimmer mit modernen Möbeln und abstrakten Bildern an den Wänden.
Keine Antwort.
»Alberto!«, wiederholte er lauter und zwingender.
Nichts.
Toni schritt über die Türschwelle und durch den großzügigen Raum hinüber in den Flur, rief dort abermals nach seinem Bekannten.
Etwas unschlüssig starrte er die Treppe hoch, die ins Obergeschoss führte, stieg dann die Stufen fast bedächtig nach oben, gleichermaßen getrieben und gehemmt durch dasselbe, unbestimmte, aber auf jeden Fall bange Unbehagen.
Er öffnete eine Türe nach der anderen, fand ein Gästezimmer, ein Klo, noch ein Gästezimmer und danach Alberto, tot auf seinem Bett liegend. Eine hässliche Wunde klaffte an seiner Schläfe. Neben seinem Kopf lag in seiner erschlafften, rechten Hand die großkalibrige Pistole.
Toni war erschüttert, konnte gleichzeitig seine Augen kaum vom schwarz umrandeten, dunkelrot-braunen Loch im Schädel des Toten nehmen, aus der nicht allzu viel Blut geflossen war. Er hockte sich neben Alberto auf die Matratze und betrachtete mit einem verloren wirkenden Blick den überschuldeten Anwalt, der im Selbstmord wohl den einzig gangbaren Weg für sich gesehen hatte.
Wie rasch doch ein Menschenleben enden konnte?
Man war beruflich erfolgreich, vielleicht sogar äußerst beliebt. Alles schien einem möglich. Die Welt stand einem offen. Und dann wurde man von einem betrügerischen Gernegroß in einen Abwärtsstrudel gerissen, aus dem man sich nicht mehr selbst befreien konnte. Frühere Freunde entpuppten sich plötzlich als eher lockere Bekannte, die einen lieber verleugneten als unterstützten. Immer mehr private Kontakte brachen weg. Man fühlte sich allein gelassen mit einem gänzlich wertlos gewordenen Leben.
Toni erblickte auf einem der Nachttische ein gerahmtes Foto mit Alberto und einer Frau darauf. Beide strahlten in die Kamera, standen auf einer Hochseejacht. Er hielt noch die mächtige Angelrute in seinen Händen. Am Haken hing ein Barrakuda. Es war wohl eine Szene aus glücklichen Tagen, eine Momentaufnahme des persönlichen Triumphs. Hatte ihn seine Freundin oder Frau nach dem finanziellen Absturz verlassen? Es musste wohl so sein. Wie sonst hätte sich Alberto fast jeden Abend im Kasino herumtreiben können?
Im Bericht der Detektei stand nichts über seine Familienverhältnisse. Doch die Pleite von Madoff lag mehr als ein Jahr zurück. Genügend Zeit für eine endgültige Trennung oder eine Scheidung.
Toni Scapia schüttelte seine trüben Gedanken ab, konzentrierte sich darauf, was als Nächstes zu tun war.
Hatte er irgendetwas im Haus berührt? Ja, die Türgriffe zu den Räumen hier oben. Mechanisch erhob er sich, strich mit der Hand den Abdruck seines Hinterns auf dem Laken glatt, ging hinaus auf den Flur, zog dort ein Taschentuch hervor und begann alle Fingerabdrücke von den Klinken abzuwischen. Zurück in seinem Hotel würde er auch seine Kleidung komplett auswechseln und die alte wegwerfen. Auch das Hotelzimmer würde er nun wechseln. Denn kein Polizist und schon gar kein Special Agent eines Geheimdienstes sollte eine Verbindung zwischen ihm und dem Haus von Alberto Valandera und damit zu Hecksmith & Born herstellen können.
Erst am späteren Nachmittag wurde Toni so richtig bewusst, dass ihm von seinen drei Zielpersonen gerade mal eine übrig geblieben war. Seine volle Aufmerksamkeit musste nun Caspar Jakes gelten. Hoffentlich überbrachte ihm die Detektei endlich nützliche Informationen über die eigentlichen Ziele des General-Managers der Kanzlei in Los Angeles und San Francisco.
*
»Dein Tipp mit dem Haus in der Quergasse war goldrichtig, Manuel«, berichtete Henry wenig später seinem mexikanischen Freund, während er sich mit den Fingerkuppen vorsichtig die dunklen Linsen vor seinen Pupillen entfernte, »ich hab ihnen vor die Tür gekotzt und kam danach kaum drei Schritte weit, schon waren zwei Bewaffnete draußen und hatten mich am Wickel. Eine Kamera konnte ich zwar nirgendwo entdecken, doch sie scheinen diese Türe oder auch die gesamte Gasse ständig zu überwachen.«
Manuel verzog sein Gesicht zu einem unglücklichen Lächeln.
»Du gehst zu große Risiken ein, Henry. Was wäre gewesen, wenn sie entdeckt hätten, dass du gar kein Mexikaner bist? Du hast dich zwar recht gut zurecht gemacht und das Bräunungsmittel tat ein Übriges. Doch du weißt genau, dass die Poren deiner Gesichtshaut viel zu fein für einen Einheimischen sind. Hätten sie dich genauer betrachtet, sie hätten bemerkt, dass du kein Mexikaner sein kannst. Zumindest hätten sie Verdacht geschöpft.«
Henry musste bei diesen mahnenden Worten breit lächeln.
»Wer schaut schon einem stinkenden Betrunkenen genau in sein mit Kotze verschmiertes Gesicht? Nein, nein, Manuel, meine Tarnung wäre nur aufgeflogen, wenn ich eine der Augenlinsen verloren hätte. Und dafür haben sie den alten Saufkopf nicht hart genug angefasst.«
»Und was willst du als Nächstes unternehmen? Auch wenn du dir nun sicher bist, wo du ansetzen kannst, so ist das WIE doch noch völlig offen?«
Manuels Fragen waren berechtigt. Wie sollte Henry jemals in die so scharf bewachte Höhle des Löwen vordringen, ohne entdeckt und getötet zu werden?
*
Der erste Tag an der Universidade Federal do Rio de Janeiro begann für Chufu Lederer mehr als harzig. Das Einschreibe-Prozedere am frühen Morgen verlief noch ohne Probleme für ihn, doch im ersten Hörsaal, wo Professor Alessandro Purrin Aspekte der Psychoanalyse lehrte, war der Andrang an Studenten so groß, dass für Chufu bloß noch ein unbequemer Platz auf einer Treppenstufe weit oben übrigblieb. Und im nächsten Vortragsaal rund zwei Stunden später war es sogar noch voller. Es blieb ihm und weiteren rund zwanzig Studenten keine Alternative. Sie mussten sich auf den Flur vor dem Hörsaal hinsetzen. Bei offener Türe versuchten sie, möglichst viel von dem mitzubekommen, was drinnen gesagt wurde. Den Rest mussten sie sich zusammenreimen, vor allem all das, was der Professor über den Beamer als Bilder und Grafiken an die Wand warf und kommentierte.
Frustriert saß Chufu später beim Mittagessen an einem der langen Tische, schaufelte das einfache, aber schmackhafte Einheitsmenü in sich hinein und überlegte, ob er nicht Alabima und Jules anrufen und seine Ausland-Studier-Übung heute noch abbrechen sollte.
Normalerweise gab Chufu zwar nicht so leicht auf. Jules hatte ihn, seitdem sie zusammenlebten, eigentlich ständig auf Ausdauer getrimmt. Nicht nur das körperliche Training dreimal die Woche mit einigen Elementen des Kampfsports, sondern auch seine geistige Beweglichkeit und vor allem den absoluten Durchhaltewillen wurden von seinem Adoptivvater immer wieder auf die Probe gestellt und gefördert. Chufu hatte seine unvollständige Schulbildung in wenigen Jahren auf Vordermann gebracht, die Matura in der Schweiz in Rekordzeit geschafft und sich für das Studium der Psychologie entschieden, was Alabima und Jules vollkommen unterstützten.
»Es kann nichts schaden, wenn du nicht nur instinktiv, sondern auch professionell hinter die aufgesetzten Fassaden anderer Menschen blicken kannst.«
Das waren die Worte von Jules, als er vom Studienwunsch von Chufu das erste Mal hörte. Und seine Eltern widersetzten sich auch nicht seiner Bitte, sich an der Universität in Rio de Janeiro einzuschreiben, auch wenn ihnen ein halbes Jahr recht kurz erschien, um Portugiesisch zu erlernen. Doch nun schienen alle seine Träume hier in Brasilien bereits geplatzt zu sein.
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